Wenn es ein positives Beispiel für die vielzitierte Leser-Blatt-Bindung gibt, dann die HiFi-IFAs. Das sind keine Fans der Internationalen Funkausstellung Berlin, zumindest kein Fanclub. Das Kürzel steht heute für Interessant Fair Ausgewogen und beschreibt eine kleine Gruppe, die sich ursprünglich aus Teilnehmern des AUDIO- und stereoplay-Forums bildete. So lernte ich Falk während meiner Motorpresse-Zeit in Stuttgart bei einem Leserhörtest der AUDIO kennen und Bernd ein paar Jahre später durch ihn. Und seit einigen Jahren machen die beiden ihr eigenes Online-Magazin, wo sie – wie ich sagen muss, sehr versiert – auf die andere Seite gewechselt haben. Wenn man bedenkt, dass beide einem anständigen Beruf nachgehen, könnte man das fast schon als einen Fall von Masochismus betrachten. [Anmerkung der Redaktion: Ja, der ist definitiv vorhanden 😉 ]
Bei einem Treffen in Ulm mit Falk und Bernd kam den beiden die Idee, dass ich in diesem Jahr auch mal was für sie testen sollte. Also, es ist definitiv nicht so, dass ich nicht genug zu tun hätte – im Gegenteil – aber für meine beiden Freunde mal über Sachen zu schreiben, die mir einfach auch selber Spaß machten – einem Kredo der HiFi-IFAs – und die ich gerne weiter empfehlen möchte, ist schon die eine oder andere Überstunde wert.
Einer wie keiner
Wenn ich aufs abgelaufene Jahr zurückblicke, dann gab es vor allem ein „Gerät“, das mich wirklich weggeblasen hat. Das war ein Ohrhörer. Nun sind Ohrhörer für mich eigentlich eher eine Notlösung für nächtliche Dröhnungen, Hören unter freiem Himmel oder im Flugzeug und – bevor ich meine Bahncard aus Frust über das Pannenunternehmen kündigte – auch in der Bahn.
Doch, was der Campfire Solaris 2020 klanglich ablieferte, war der schiere Wahnsinn. Das Teil entwickelte selbst an meinem iPhone eine solche brachiale Dynamik und Attacke, dass ich begeistert war. Wer mich kennt, weiß, was das bedeutet. Nicht nur, dass ich in über 30 Jahren in der Branche einiges exorbitant Teures und gelegentlich auch wirklich Gutes gehört habe. Es ist ja auch so, dass es mittlerweile kaum noch schlechte Produkte gibt – zumindest dann, wenn man den Preis einbezieht. Das war in den 80ern, als ich meine erste Redakteursstelle bei der HIFI VISION in Hannover antrat, ganz anders. Da konnte jemand mit meinem, durch viel Live-Erlebnisse geprägten Geschmack die Sachen, die man ohne Ohrenschützer genießen konnte, an den Fingern abzählen.
Heute sind die meisten Sachen wirklich ordentlich. Selbst kleine Bluetooth-Lautsprecher wie der Teufel Motiv Go, den ich kürzlich hier vorstellte. Da will es schon was heißen, wenn man ins Schwärmen kommt. Doch genau das war der Fall beim Campfire Solaris 2020. Ein genialer Hörer mit einer Top-Verarbeitung. Aber auch so teuer, dass man selbst als hartgesottener Tester zusammenzuckt: 1.700 Euro, das wäre ein Betrag, den ich leichter für andere Laster ausgeben würde.
Geiz ist aber auch nur die halbe Wahrheit. Das Teil geht so was von höllisch ab, dass ich wirklich Angst hätte, mir damit das Trommelfell herauszublasen. Bisher kenne ich ähnliche Schutzreflexe nur von Supersportwagen. Als ich 2016 den Audi R8 V10 Spyder in den Bergen um Barcelona einen Tag lang ganz alleine ausfahren konnte, kam ich fantastisch mit dem 610-PS-Mittelmotor-Roadster (Bericht) zurecht. So gut, dass ich sogar nach kurzer Eingewöhnung ESP und Traktionskontrolle deaktivierte und in den manuellen Schaltmodus des automatischen DSG-Getriebes wechselte.
Doch wie beim Jahre zuvor getesteten Bugatti Veyron V16 Grand Sport (Bericht) oder dem Ford GT (Bericht) war ich trotz oder gerade wegen aller Begeisterung fast froh, als ich ihn nach einigen Stunden wieder abgeben musste. (Mein eigener Wagen ist zum Glück elektronisch im Topspeed begrenzt, was ich grundsätzlich auch beruhigend finde, obwohl ich natürlich die Mundwinkel verziehe, wenn mir auf einer leeren Autobahn in der Kurve im schönsten Moment plötzlich die Leistung zusammenbricht).
Gegen Dummheiten mit unlimitierten Supersportwagen schützt mich mein karges Salär als HiFi-Tester, welches für einen Campfire Solaris 2020 allerdings durchaus ohne Konsumverzicht reichen würde. Aber ich traue dem Kamikaze-Genießer in mir einfach nicht… Immerhin ist mein Gehör mein Unternehmenskapital, weshalb ich mir ungerne die Trommelfelle über die Ohren ziehen lassen würde.
Solaris sticht heraus
Ungeachtet eigener Begehrlichkeiten möchte ich allen HiFi-Gourmets mit dem nötigen Kleingeld und der erforderlichen Selbstbeherrschung diesen Tipp geben.
Falls Sie die stereoplay lesen, kennen Sie vielleicht schon meinen Bericht zum Campfire. Aber, was nicht dabei stand. Abgeklärt und skeptisch wie ich nun mal bin, ist bei mir das Glas eher halb leer als halb voll. Das meinte jedenfalls vor fast 20 Jahren ein Produktmanager, dessen Receiver in meinem Test nicht, wie von vielen Magazinen gewohnt, ehrfürchtig mit Superlativen überschüttet wurde.
Und dann das: In stereoplay Ausgabe 8/20 schrieb ich zum Campfire: „Der Autor wollte den Solaris 2020 zunächst für einen ersten Eindruck an seinem iPhone ausprobieren, dessen Lautstärkeregler vom Hören mit den eigenen In-Ears zu etwa 70 Prozent aufgedreht war. Was folgte, war eine akustische Atomexplosion, die den förmlich paralysierten Tester reflexartig die Reißleine ziehen ließ. Er riss das geflochtene Mini-Klinken-Kabel des 1.700 Euro teuren Campfire zum Notstopp samt Adapter aus der Anschlussbuchse des Smartphones.“
Man glaubt vermutlich auch kaum, dass diese Formulierung aus meiner Feder stammt: „Während zunächst für eine Schocksekunde die Befürchtung im Raum stand, die Trommelfelle könnten sich nach innen verformt haben, herrschte nach dieser Einführung nicht der geringste Zweifel: Das muss wohl der mit Abstand wirkungsgradstärkste In-Ear in unserem Sonnensystem sein.“
Derartige Superlative gehen mir – vielleicht auch, weil ich regelmäßig mit 500 Newtonmeter ab 1.520 Touren zwischen Stuttgart und der stereoplay-Redaktion in Haar bei München pendele – nicht einmal bei V8-Boliden wie dem sehr geschätzten Mustang GT Bullitt (Bericht) so leicht von der Hand. Und bei HiFi nach tausenden von Tests schon gar nicht. Der Campfire Solaris 2020 war wirklich „mindblowing“ wie ich es in der stereoplay ausdrückte.
Abgefahrene Hybrid-Treiber
Das sollte allerdings nicht bedeuten – ich sage das für alle, die zwischen den Zeilen lesen –, der Solaris 2020 könne nur laut. Er besitzt ein extrem aufwendiges Treibersystem, das etwa so abgefahren ist, als wenn man V8-Turbo, Wankelmotor und Elektroantrieb in einem Auto zusammenfassen würde. Um auch noch so subtile Nuancen aus audiophilen Aufnahmen zu kitzeln, hat Campfire alle Register gezogen.
Je vier Treiber spielen pro Seite in perfekter Harmonie. Dabei handelt es sich um je drei Balanced Armature- und ein dynamisches Chassis. Dabei reduzierten die Köpfhörer-Maniacs aus den USA gegenüber dem 2018 vorgestellten Vorgänger das Volumen der Aluminiumkapseln um gut 20 Prozent. Im Gegensatz zu Herstellern, die jedes Jahr etwas Neues vorweisen müssen, handelt es sich dabei um einen nicht unerheblichen Schritt. Schließlich sind die In-Ears aus Portland, Oregon, nicht unbedingt leicht und zierlich, vergleichen mit der gängigen Massenware. Jede Volumen- oder Gewichts-Reduzierung ist daher gerade Nutzern wie mir, zum Mitnehmen in der Sakkotasche ohne Ausbeulungen absolut willkommen.
Doch zurück zum Innenleben der Aluminium-Gehäuse, die sicher niemals wie meine letzten beiden aus Kunststoff in China gefertigten Mainstream-In-Ears eines Tages einfach an der Klebenaht auseinanderfallen dürften. Die Tuned Acoustic Expansion Chamber (T.A.E.C.) dient der ungehinderten direkten Abstrahlung hoher Frequenzen. Dafür sind gleich zwei BA-Treiber zuständig. Ein weiterer BA-Schallwandler widmet sich ausschließlich dem mittleren Frequenzbereich. Die sogenannte Polarity Tuned Chamber dient dem Zweck, die Performance des 10 mm durchmessenden dynamischen Treibers im Tief-Mitteltonbereich zu optimieren. Seine Membran wird mit einer exotischen Methode produziert. Der Prozess nennt sich Plasma enhanced Chemical Vapor Depostion, kurz PECVD. Er ermöglicht durch hochfrequente, plasmaunterstützte chemische Gasphasenabscheidung, die Produktion von Kohlenstoffdünnfilmen, die durch Stickstoff veredelt sind und eine amorphe, diamantähnliche Struktur aufweisen.
Die akustischen Kammern im Innern des in Handarbeit gefertigten Solaris 2020 bestehen aus Keramikmaterial, das im 3D-Druck geformt wird. Neben einem hochwertigen Lederetui sowie kleinen Transportbeuteln für die In-Ears und die verschiedenen Silikon-Ohr-Tips gehört das hochwertige Audio Super Litz-Kabel zum Lieferumfang. Die Strippe verfügt über versilberte und verseilte Leiter mit mehreren Durchmessern, Beryllium-Kupfer-MMCX-Anschlüssen für schnellen Kabeltausch und 3,5-mm-Stecker.
Geht wie die Feuerwehr
Auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole, muss ich meine Formulierung aus der stereoplay aufgreifen: „Wie eingangs erwähnt, geht der schicke, schwarze In-Ear ab wie die Feuerwehr. Und zwar in einem Maße, dass alleine das schon Ehrfurcht gebietet, vorm geistigen Auge reißerische Schlagzeilen wie ‚Der Hörer, den Hersteller von Kopfhörer-Amps fürchten.‘ “
Trotz meiner Abgeklärtheit setzte ich noch einen drauf: „Der In-Ear, der sie in den Ruin treibt.“. Das ist nicht mal sonderlich übertrieben. Selbstverständlich kann der Campfire Solaris 2020 an einem Hi-Res-Player mit potenter Ausgangsstufe und entsprechenden Aufnahmen noch zulegen – sowohl, was Auflösung als auch Punch und Präzision im Bass betrifft. Doch sind diese Unterschiede zumindest bei allen, die wie ich, vorwiegend Rock und Pop hören, so subtil, dass sich jeder die Frage stellen muss, ob ihm das den Mehrpreis und Mehraufwand wirklich wert ist. Das Handy hat man heute eh immer dabei. Aber will man dann noch einen doppelt oder gar viermal so dicken HR-Player mit sich führen, wenn man einen Kurztripp mit wenig Gepäck antritt?
Das damit gleichzeitig gesparte Geld würde ich lieber für die ebenfalls vom deutschen Importeur Headphone Company angebotenen Tailormade Ear Tips investieren. Erstens ist es eine äußerst interessante Erfahrung, wenn Dir jemand Deine Ohrkanäle für einen Abdruck mit flüssigem Silikon ausspritzt. Zweitens verbessern die ans eigene Ohr – es ist so einzigartig wie ein Fingerabdruck – angepassten Pads den Sitz des Hörers schon allein durch die größere Auflagefläche. Die Tailormade Ear Tips drücken also nicht so fest an einem Punkt und dichten trotzdem so gut ab, dass sich ein satter, tiefer Bass einstellt. Zu meiner Überraschung profitieren von meinem Selbstversuch auch die räumliche Abbildung und die Natürlichkeit der Mitten.
Wenn ich ehrlich sein soll, ist auch diese Investition von 75 Euro (im Bundle mit dem Hörer) eher das exquisite Sahnehäubchen beim Campfire Solaris 2020. Als ich den Hörer nach einer Woche wieder zurücksenden musste, nutzte ich die maßgeschneiderten Ear Tips an meinem Harman-Hörer, bevor der kurz darauf wie zuvor mein jahrelang gerne benutzter Bose-Noise-Cancelling-Hörer einfach ausseinanderfiel. Der Effekt war indes gewaltig.
Technische Daten und Zubehör
- Bauart: In-Ear-Hörer
- Impedanz: 10 Ohm
- Lautsprecher: Hybrid, 4 Treiber
- Gewicht: 70 g
- Beigelegte Kabel:
Campfire Audio Super Litz, silberbeschichte Leiter, MMCX- und 3,5-mm-Mini-Klinkenstecker - Softcase, Beutel
Klang
Beim Campfire braucht man eigentlich kein Tam-Tam. Das Teil spielt selbst out of the Box an einem iPhone 11, dass einem schlicht die Kinnlade herunterfällt. Der Solaris 2020 bot damit ungeachtet der schwachen Ausgangsstufe und der datenreduzierten AAC-Dateien eine Dynamik und Attacke, wie man sie von den meisten In-Ears nicht einmal mit Hi-Res-Audio an einem Kopfhörer-DAC geboten bekommt.
Tonal wahrte der US-Hörer eine vorbildliche Neutralität, Detailreichtum und Transientenverhalten gehörten zum Besten, dass man im Kopfhörer-Bereich überhaupt geboten bekommt. Sein schwereloses, extrem schnelles Ansprechen auf Impulse, sein perfektes Timing und der sehr tiefe, bemerkenswert trockene Bass katapultierten den Campfire blitzschnell an die Spitze meiner high-fidelen Wunschliste, weckten aber wie bereits erwähnt gleichzeitig berechtigte Befürchtungen, dass ich es, betört vom Drive, derart übertreiben könnte, dass mein Gehör darunter leiden würde. Darin steckt, nebenbei erwähnt auch, dass er für In-Ears geradezu aberwitzige Pegel ohne Zeichen von Anstrengungen oder gar Verzerrungen erreichte. In der Summe seiner positiven Eigenschaften eignet er sich gleichermaßen für Jazz-, Klassik- oder Rock- und Pop-Fans – wobei letztere noch weniger Alternativen finden dürften. Das liegt einfach an dem packenden Punch, der einen mitreißt, ob man will oder nicht.
Fazit
Vielleicht lebe ich zulange im Schwaben-Ländle, dass ich vorerst trotz aller Begeisterung zu geizig bin, mir den 1.700 Euro teuren Hörer zu gönnen. Vielleicht traue ich mir auf meine alten Tage einfach nur selbst nicht, dass ich meine schon allein von Berufs wegen kostbaren Trommelfelle in einem Anflug von Ekstase mit Pink Floyd oder Style Council bei deutlich über 110 dB – so viel schafft der Solaris 2020 nach der stereoplay Messung mal ganz locker – ionisieren würde. Aber für alle Umsichtigen, die auch immer schön die AHA-Regeln einhalten und die Alltagsmaske stets korrekt weit über die Nasenspitze ziehen, sollte der unbändige Draufgänger von Campfire verantwortungsvoll ohne schädliche Nebenwirkungen zu verwenden sein.
Im Test
In-Ear-Ohrhörer
Campfire Solaris 2020
Preis: 1.700 Euro
Kontakt
Headphone Company
Neue Stücker 13
69118 Heidelberg
Fotos: Hersteller/Artwork: Stefan Schickedanz