Zu Besuch bei… dem Jazzfest Berlin 2024. Ein Festivalrückblick.
Brot, Blumen und Plattentipps
In die nebligen Tage des Hochherbstes, den man bei allerbestem Wohlwollen nicht mehr als Goldenen Oktober bezeichnen kann, rund ums gruselige Halloween und den nicht minder schaurigen Gedenktag Allerheiligen, klemmt sich traditionell das Jazzfest Berlin. Warum das für Sie, wo der meteorologische Winteranfang doch schon längst eingetreten ist, jetzt noch Bedeutung hat? Abgesehen vom jährlichen Update zum Status Quo des Jazzgeschehens nehmen wir Ihnen heute auch noch die Sorge um das eine oder andere Weihnachtsgeschenk ab, denn der folgende Festivalrückblick ist gespickt mit Alben, die unter keinem Gabenbaum fehlen dürfen. Und los geht’s!
Normalerweise beginnt ein Jazzfestbericht mit den Worten „Nach dem Festival ist vor dem Festival“, denn unmittelbar vor das Jazzfest Berlin hatte der Kalender in den letzten zwei Jahren das bekind Festival gesetzt. 2024 waren die Fördertöpfe des Berliner Senats jedoch leer oder zumindest anderweitig vergeben – und be kind wurde keine Unterstützung bewilligt. Es liegt auf der Hand, was das für ein noch junges, hochkarätig besetztes Festival bedeutet: Es kann nicht stattfinden. Für 2025 ist man allerdings bestrebt, alternative Fördermöglichkeiten aufzutun, die es vor dem Hintergrund der anstehenden Streichungen in der Kulturförderung von Bund, Ländern und Kommunen dringend (und traurigerweise) braucht. Schließlich liegen seit dem 19. November die Zahlen auf dem Tisch: Mit Beschluss des Berliner Senats von diesem Tag wurde bekannt, dass der Kulturetat um 130 Millionen Euro gekürzt werden soll. Bereits jetzt trägt er mit nur 2,1% wenig zum Gesamthaushalt bei, wird aber trotzdem überproportional mit einem Kürzungsanteil von 13% belastet. Kultur – kann man sich sparen?
Für uns bedeutet die diesjährige Absage von be kind aber nicht nur Betrübnis, sondern auch, dass wir uns ganz festivalhungrig dem Jazzfest Berlin widmen können, liegt unser letzter Jazzfestivalbesuch mit der Bremer jazzahead! nun doch schon ein ganzes halbes Jahr zurück. Was nicht zuletzt heißt, dass es dieses Jahr keinen Grund gibt, aufgrund vorausschauender Vermeidung potenziellen Alles in allem alles zuviel–Stresses ausschließlich im Berliner Festspielhaus auszuharren. Und so setzen wir wohlgemut auch wieder einige Clubbesuche aufs Programm, lehrt dekadenlange Jazzfesterfahrung doch: Die wirklich wichtigen Dinge gibt’s in den Clubs.
Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft
Ohnehin hat sich die Jubiläumsausgabe des Berliner Jazzfestes, das zwar schon 61 Jahre alt wird, aber „erst“ zum 60. Mal über die Bühne geht, Dezentralität auf die Fahnen geschrieben. Kuratorin Nadin Deventer, die dem mehr oder weniger in Ehren angegrauten Festival bereits seit sieben Jahren erfolgreich eine gewisse Altersbehäbigkeit austreibt, will der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung samt spürbarem Rechtsruck mit der gesamten Positionierung ihres Festivals zum runden Geburtstag begegnen.
So wird das Konzertprogramm 2024 von zwei Jubiläums-Specials flankiert, womit sich die ohnehin schon komplexe Festival-Struktur unter der Maxime Vergangenheit – Gegenwart – Zukunft in drei Haupt-Cluster gliedert. Dabei wird die Vergangenheit vom Jazzfest Research Lab abgedeckt, welches das eigene Erbe durch – auch fachfremde – Wissenschaftler kritisch analysieren lässt, drunter beispielsweise die Bildsprache des Jazzfests oder seine Kuration im Laufe der Jahrzehnte. Den Gegenwarts-Cluster bildet das Konzertgeschehen, wo sich etablierte Jazz-Ikonen über vier Festivaltage hinweg die Bühne mit aktuellen Szene-Stimmen teilen. Die Zukunft wiederum wird vom Jazzest Community Lab Moabit symbolisiert, wo – ausgehend von der letztjährigen Festivalausgabe mit einem 60-köpfigen Kinderchor, dessen halbe Sängerschaft aus Moabit kam – eine Vielzahl an Initiativen im nicht gerade als bildungsbürgerlichen Hotspot bekannten Bezirk entstanden ist. 350 lokale Teilnehmer:innen aller Altersgruppen treffen hier in Beteiligungsprojekten auf etwa 40 der 140 Musiker:innen des diesjährigen Festivals.
Heimlicher Schwedenschwerpunkt: sehr viel sehr gute Musik
Zwei davon sind die schwedischen Kontrabassisten Vilhelm Bromander und Joel Grip – und das nicht von ungefähr, hat das 60. Jazzfest Berlin doch ganz nebenbei auch noch einen kleinen Schwedenschwerpunkt aus dem Hut gezaubert. Warum Schweden, warum gerade jetzt? „Das hat sich so ein bisschen zufällig ergeben“, räumt Kuratorin Deventer ein. „Uns ist aufgefallen, dass in Schweden gerade sehr viel sehr gute Musik entsteht. Und wenn uns etwas auffällt, wollen wir natürlich auch in die Tiefe gehen.“
Bromander erklärt, er selbst stecke so tief in der schwedischen Szene drin, dass es ihm schwerfalle zu sagen, ob es tatsächlich etwas Neues gäbe – oder ob das Jazzfest-Team gerade erst bereits Bestehendes entdeckt hätte. In jedem Falle gäbe es eine lebendige Jazzszene – und keine Kulturexportbüros. Deshalb, wirft Grip ein, sei man „in Schweden noch naiv genug, sich selbst zu organisieren“. Man sei noch nicht von Zynismus zerfressen und könne sich nach Belieben ausprobieren, es gäbe Zeit und Raum für Experiemente.
Dass eventuell auch eine gewisse Ästhetik geteilt werde, sei „aber nur ein Nebenprodukt, das den schwedischen Sound oder wie auch immer man es nennen wolle, hervorbringt“, nimmt Bromander den Ball wieder auf. Für ihn gehe es mehr um Community als um geteilte Ästhetik. Und auch Grip verweist darauf, dass die schwedischen Ensembles, die dieses Jahr beim Jazzfest auftreten, unterschiedliche ästhetische Ansätze hätten. „Vielleicht“, sinniert er, „ist genau dies das Besondere an Schweden: dass die Leute für verschiedene Ansätze offen sind, dass wir uns gegenseitig unterstützen und gegenseitig an uns glauben.“ Das meint auch Bromander: „Die Menschen in Schweden sind bereit, das zu tun, was die Musik braucht, und ihr eigenes Ego, ihre eigene Ästhetik dafür aufzugeben. Das ist natürlich mit unserer manchmal etwas zu höflichen Gesellschaft verbunden.“
Da es dieser an einer gewissen Dynamik fehle, sei das Jazzfest Berlin eine einmalige Gelegenheit, sich zu vernetzen – und natürlich sei es auch etwas ganz Besonderes, dass gleich drei schwedische Ensembles aufträten. Eins davon bestreitet sogar das Eröffnungskonzert im Großen Saal des augenscheinlich vollausverkauften Festspielhauses.
Brot, Blumen und Gratulationen
Es ist Donnerstagabend, punkt 18:00 Uhr. Und es ist knallvoll an diesem ersten Tag der Jubiläumsausgabe des Berliner Jazzfestes, das – 1964 unter dem Namen Berliner Jazztage gegründet – als eines der ersten Jazzfestivals Europas gilt und in Sachen Zugkraft und Relevanz immer noch bzw. endlich wieder als Platzhirsch firmiert.
Kein Wunder, dass Gratulant Matthias Pees, Intendant der Berliner Festspiele, bezogen auf die langjährige Partnerschaft des Jazzfestes mit der ARD sogar verklärt von einem „60. Hochzeitstag“ spricht – und darüber, wie glücklich man sich schätzen könne, dass das hauptstädtische Jazzfest immer noch ein Radiofestival sei, was ihm ganz en passant zum Plädoyer für Qualitätsjournalismus vor dem Hintergrund der anstehenden Mittelkürzungen im ÖRF gerät. SWR-Jazzredakteurin Julia Neupert pflichtet ihm bei und betont, dass die Partnerschaft von Festival und Rundfunk auch international einzigartig sei – und leitet zum Eröffnungsact, dem Vilhelm Bromander Unfolding Orchestra über, das „der Welt 2023 eine ganz phantastische Platte geschenkt“ habe, wie Kuratorin Deventer als Dritte im Gratulanten-Bunde verheißt.
Und dann richtet sich die allgemeine Aufmerksamkeit endlich auf die Musik. Zunächst betritt eine in traditionelle indische Gewänder gehüllte Musikerin mit Tampura-Langhalslaute die große Bühne, konnte Bromander doch Sängerin/Sitarspielerin Deniz Schelfi für das Eröffnungsstück gewinnen, deren betörender Dhrupad-Gesang nicht als eine Art exotische Krönung herhalten muss, sondern sich gänzlich organisch mit den zwischen Spiritual Jazz, Carla Bley und Contemporary oszillierenden Klängen des 12-köpfigen Instrumentariums verflicht.
Seine große musikalische Sensibilität zeigt der Orchesterleiter mit dem Sleighbell-begleiteten Solo-Bass-Intro des zweiten Stücks, dessen Genuss einzig vom anlassunangemessenen, überschweren Parfüm der Vormirsitzenden und einem aus allen Poren Qualmausdünstenden etwas weiter entfernt getrübt wird. Eine Allianz, die streckenweise die Luft zum Atmen raubt! Keiner kann nun noch die zu pandemischen Streaming-Zeiten weitverbreitete Beschwerde hervorbringen, dem Konzerterlebnis fehle die multisensationelle, darunter eben auch: olfaktorische Komponente. Hier ist sie voll da.
Die Musik indessen ist, da haben die Anmoderierenden nicht zu viel versprochen, absolut prächtig und einem Festivalauftakt – im Gegensatz zu letztem Jahr – äußerst angemessen. Schade nur, dass sie schon mit dem dritten Stück – das mit sperrig-zarter Violinen- und Pianoimpro besticht, die bald schon zur vollorchestrierten Opulenz mit herzzerreißend heulender, links und rechts von Trompete bzw. Bassklarinette sekundierter Saxophonfront erblüht – „Flowers and Bread“ enden muss!
Der Song gibt ein in Schweden tradiertes Narrativ wieder, nach welchem man, wenn man nur zwei Münzen besitze, für die eine Brot, für die andere Blumen kaufen solle – ersteres, um zu überleben, letzteres, um das Leben lebenswert zu machen. Mein aus Budapest stammender Vater hat mich übrigens die mittelosteuropäisch gefärbte Variante gelehrt. Nach dieser sei der Diebstahl von zwei Dingen legitim: von Brot und von Blumen. Brot gegen den Hunger, Blumen für die Liebe.
Denn sie wissen nicht, was sie feiern – aber sie feiern
Nach so viel Romantizismen ist es auch gar nicht schlimm, dass die Eröffnungsrede von Posaunist, Komponist und Historiker George Lewis als Videobotschaft abgespielt werden muss. Sie schließt mit den Fragen „What is Jazz?“ bzw. „*Who* is Jazz?“, um zu antworten: „You’ll never know. Happy birthday, Jazzfest!“
Nun wissen wir also nicht, was oder sogar wen wir hier feiern, aber wir feiern – nach dem Solopianoset von Performer-Komponistin Marilyn Crispell spätestens beim Jazzfamilien-Get-Together an der Bornemann Bar im Festspielhaus, wo nicht nur der 2022-er Jahrgang von einem pfeffrig-pflaumig geratenen Dicken B, einer eigens für die Hauptstadt kreierten Pfälzer Rotwein-Cuvée, verkostet wurde, sondern die Schwedische Botschaft Berlin es sich gleichfalls nicht nehmen ließ, ein Häppchen-Büffet inklusive Elchfleisch zu spendieren.
Auch gibt‘s hier eine vom RBB gesponsorte Fotobox, wobei der große Ansturm auf sie vermutlich erst mit späterer Stunde (und höherem Alkoholpegel) einsetzen wird. Den erleben wir allerdings nicht mehr, müssen wir das Festspielhaus doch in Richtung Quasimodo verlassen, was einen etwa 20-minütigen Spaziergang durch die bürgerlichsten Teile der Charlottenburger Herbstnacht erfordert.
In your face: Frau Benjamin und die Berliner
Angekommen. Auch hier ist es klaustrophobisch voll. Mysteriöserweise sind noch zwei Plätze direkt vor Bühne und Boombox frei (später, halb taub, werden wir wissen, wieso), wo wir auf die 5-fach Grammy-nominierte Altsaxophonistin Lakecia Benjamin und ihr neues Programm Phoenix warten. Dafür lassen wir schweren Herzens Sun-Mi Hongs BIDA Orchestra auf der Seitenbühne und die 25-Jahr-Feier von Thärichens Tentett im A-Trane links und rechts unseres Weges liegen.
Benjamin nämlich hatte mich bei den Vorbereitungen zum Deutschen Jazzpreis 2023, den sie in der Kategorie „Blasinstrumente international“ auch prompt gewann, mit ihrem damals aktuellen Album Pursuance: The Coltranes derart nachhaltig beeindruckt, dass ich sie unbedingt noch einmal live erleben wollte. Vor allem, weil sie heute nicht nur Stücke ihrer aktuellen Veröffentlichung Phoenix spielt, sondern sich auch wieder am Ehepaar Coltrane abarbeitet – etwa mit ihrer Interpretation der John-Coltrane-Version des Standards „My Favorite Things“, die sie Alice Coltrane widmet.
Ganz nah dran: Lakecia Benjamin spielt „My Favorite Things“
Schon ziemlich am Anfang des Sets steht fest: Lakecia Benjamin spielt nicht nur Saxophon wie eine junge Göttin, sondern lässt es sich auch nicht nehmen, so laut- wie meinungsstark mit einem Nicht von dieser Welt-Selbstbewusstsein zu rappen – und ganz selbstverständlich mitten auf der Bühne dann und wann ihr Handy zu checken, und zwar nicht für die Setlist oder das nächste Lead Sheet, sondern um die Nachricht en detail zu lesen, die kurz zuvor auf ihrem Sperrbildschirm aufgeploppt ist. So schön es auch ist, ganz nah dran zu sein: Manchmal entzaubert so ein Erste-Reihe-Platz das Konzertgeschehen dann doch ungemein.
Und obgleich ihr neues Quartett einen hochenergetischen Modern Jazz spielt, der – allein schon ob dieser der unmittelbaren Bühnennähe geschuldeten Lautstärke, die die Trommelfelle zum Pulsieren bringt, wie man es nur von Lautsprechermembranen im Comic kennt – die mit später Stunde ermüdenden Sinne wieder nachhaltig belebt, obwohl hier technisch brillanter Hot Jazz geboten wird, gerät Benjamin ihre unter dem herausgeschrienen Motto „Love! Joy! Power! Freedom! Justice!“ stehende Performance seltsam kühl, weshalb sie das Publikum letztlich nicht im Herzen trifft.
Die Musikerin ist ob unseres fehlenden Enthusiasmus‘ dann auch sichtlich ungehalten, während wir uns einfach nur kollektiv überfahren fühlen von allzu viel In your Face-Aggressivität. Auch ich komme nicht ungeschoren davon. „What are you writing?“, faucht sie mich, die ich Notizen mache, an. Da mir die Musik mittlerweile auch durch trommelfellzerfetzende Obertonspitzen gehörig zusetzt, verlasse ich mit meinem Begleiter das Konzert vor der Zeit. Vielleicht sind sie letzten Endes ja noch miteinander warm geworden, Frau Benjamin und die Berliner. Ich werde es nicht erfahren.
Brachialgrandiose Improvisation
Ob die wirklich spannenden Dinge auch dieses Jahr in den Clubs stattfinden, während das Festspielhaus eher Plattform fürs Meet&Greet ist, lässt sich nach diesem ersten Jazzfesttag weder bejahen noch verneinen. Fest steht, dass mit purem Blick ins Programm auch am 2. Tag, dem Festivalfreitag, die Verlockung der Clubs groß ist.
Da trifft zum einen der britische Pianist Kit Downes auf die argentinische Saxophonistin Camila Nebbia, deren Improvisationskunst sich an diesem Abend die schlagkräftige Unterstützung des Londoner Drummers Andrew Lisle zu sichern weiß. Gleich um die Ecke im Quasimodo lauert The Sleep of Reason Produces Monsters, was nicht nur der wohl großartigste Projekt- bzw. Bandname aller Zeiten ist, sondern allein schon wegen der Besetzung mit Mette Rasmussen am Altsaxophon – ja, das ist die, deren kopfhängendem Fisch der Titel unseres 2022er-Festivalberichts zu verdanken ist – brachialgrandiose Improvisationen erwarten lässt.
Allerdings: Wer sich heute zu später Stunde in den Clubs verlustiert, verläuft, verliert, verpasst das Bühnenhausspecial zu John Hollenbecks „The Drum Major Instinct“, von dem Kuratorin Deventer verspricht, dass es „am Freitagabend nach dem Hauptbühnenprogramm das Publikum einlädt, auf die offene Bühne zu treten und sich dort frei zu bewegen, um tief in die Jazzfest-Geschichte einzutauchen – und damit letzten Endes selbst integraler Bestandteil davon zu werden.“
Geschichte aus jeder Pore
Apropos Geschichte: Die atmet die Jubiläumsausgabe aus jeder Pore. So werden am Freitag im Rahmen des Filmprogramms in der Kassenhalle des Festspielhauses historische Konzertaufzeichnungen aus sechs Festivaldekaden präsentiert.
Wir entscheiden uns für Nebbia/Downes/Lisle und, allein schon dieses besonderen Theatergeruchs willen, für das späte Bühnenhausspecial – wohl wissend, dass es sich am nächsten Tag lohnt, früh aufzustehen, denn am Festivalsamstag finden die ersten Pop up-Sessions statt, wo Jazzfestmusiker:innen mit lokalen Beteiligten in der Moabiter Nachbarschaft agieren – ob vorm kaffeeausschenkenden Waschsalon unter kritischem Blick von Queen Elisabeth II. oder auf offenem Platz, wo Joel Grip, der offensichtlich eine sehr, sehr tolerante Instrumentenversicherung hat, schon mal mit dem Kontrabass jongliert.
Wir teilen uns auf und schwärmen aus. Immerhin warten in der Kassenhalle des Festspielhauses im Rahmen des Research Lab zeitgleich auch noch Programmpunkte wie „Boo To You Too! Transformations and Gendered Perceptions at the Jazzfest Berlin 1964–2024“, „The Evolution of Jazzfest Berlin’s Visual Language in Posters“ oder „Conversations with Five (Former) Artistic Directors of Jazzfest Berlin“ auf den jazzgeschichtsversessenen Besucher.
Episches Grand Finale: Wenn Dave Brubeck die Bühne räumen muss
Zeit zum Sackenlassen gibt es allerdings auch heute nicht wirklich, denn schon um 18:30 wartet auf der Großen Bühne mit Anna Höbergs Extended Attack eine – live im Radio übertragene – Deutschlandpremiere, auf die sogar eine Welturaufführung folgt: Der mittlerweile 80jährige Pianist Joachim Kühn, der erst diesen April das Bundesverdienstkreuz erhalten hat, versprüht mit seinem neuen French Trio eine Energie, von deren Level sich viel Jüngere die sprichwörtliche Scheibe abschneiden könnten!
Was Kühn am Piano, Thibault Cellier am Bass und Sylvain Darrifourcq am Schlagzeug zaubern, ist eine prachtvolle Pianomusik, virtuos, melodisch bis nachgerade hymnisch, weich und voll, von der Rhythmusgruppe, falls man zwei Drittel einer Band so bezeichnen kann, trickreich klappernd und von beeindruckender, beinahe barocker Präzision konterkariert. Es ist eine vorwärtsgewandte Musik, die das French Trio spielt, keine, die melancholieverhangen und gedankenumwölkt über sich selbst nachsinnt. Eine optimistische Musik, flirrend und fließend, so manches Mal wie die gerade der Quelle entsprungene Moldau oder die an einem Bächlein helle lustig springende Forelle.
Je länger es spielt, desto offenkundiger wird auch, was für eine unheimlich positive Musik diesem Trio hier gelungen ist – nicht nur vorwärts-, sondern richtiggehend zugewandt, auch in ihren zartesten Momenten, die so gar nichts Retrospektivisches an sich haben, keinen Weltschmerz und kein Weh kennen. Kurz: Es ist eins dieser seltenen Konzerte, wo man – ganz im Gegensatz zum vorangegangenen – nie auf die Uhr schaut, nie an noch zu tätigende Besorgungen oder zu Erledigendes für den nächsten Tag denkt.
Und wenn Kühn/Cellier/Darrifourcq dann doch mal, nahezu versehentlich, auf einer nachdenklichen Note enden, wird dieser gleich darauf wieder fröhliches Forellenspiel am Soloklavier entgegengehalten. Gen Schluss gebiert die Interaktion der drei Musiker einen hochmodernen, superdichten, soghaften Pianotrioklang mit fast schon Trap-artigen Rhythmen, wobei man sich gegenseitig in einen regelrechten Flow, um nicht zu sagen: Fieberwahn hineinsteigert, der erst abrupt endet, wenn Kühn den Klavierhocker räumt und der sich in eine regelrechte Drum Machine verwandelnde Darrifourcq die Pause füllt, bis der Pianist zum epischen Grande Finale wiederkehrt und einmal mehr weit ausholend in die Tasten greift.
Die Zugabe provoziert Kühn ein wenig selbst, indem er von seinem ersten eigenen Jazzfest-Auftritt vor 58 Jahren erzählt, wo das Berliner Publikum diese wohl erklatschte, obgleich die Festivalmacher schon Dave Brubeck auf die Bühne geschoben hätten – der dann noch einmal gehen musste. Und wie gut, dass auch diesmal energisch nach Mehr verlangt wurde, gibt sich der Bonus doch derart feinziseliert und dunkelfunkelnd, dass ich die ganze Zeit über an die Edelsteine bei Schneewittchen denken muss, die von den Zwergen aus den Minen geborgen werden, bis sich das Hochmelodisch-Hymnische auch hier noch einmal seinen Weg bahnt – und damit das Konzert summa summarum zu einem der besten dieses Jahres macht.
Es ist wieder einer dieser Momente, nach denen man keine weitere Musik mehr bräuchte und angefüllt mit Seligkeit nach Hause gehen könnte, ohne zu fürchten, irgendetwas zu verpassen. Denn egal, was jetzt noch käme: Der Abend könnte nicht besser werden. Diesjahr wäre es allerdings fatal, diesem Impuls nachzugeben, steht doch als nächstes das legendäre Sun Ra Arkestra auf dem Programm, das wir unbedingt sehen wollen. Es gibt Dinge, die muss man einmal im Leben gemacht haben. Das SRA sehen ist eines davon.
Von Priestern, Pharaonen und Raumfahrern
Sehen ist auch das Stichwort der Stunde, denn das – von Prof. Priscilla Layne, die zu deutschem Afrofuturismus forscht, anmoderierte – Large Ensemble, das ohne seinen 100-jährigen Mastermind Marshall Allen auskommen muss, weil der zwar noch national auftritt, aber auf Anraten seiner Ärzte keine Flugreisen mehr unternehmen darf, ist erstmal ein Hingucker. Allein die Glitzerkostüme und orientalisch anmutenden Kopfbedeckungen lassen Teile der reichbesetzten Bläserfront erscheinen wie die Heiligen Drei Könige aus dem Morgenland, während andere volles Pharaonenornat tragen – aber auch Trilbyähnliches und sogar einfache Basecaps wurden gesichtet.
So vielfältig und bunt, wie die Kopfbedeckungen des Sun Ra Arkestra ist auch seine Instrumentierung, wo Kongas auf modulare Synthesizer auf Freejazzphrasen exhalierende Saxophone auf die in Rio de Janeiro gespielte Zylindertrommel Surdo treffen. Und doch: Die Musik speist sich aus nahezu konventionellem Retroswing, lässigem Doo Wop, kitschgrenzschrappendem Vocal Jazz und auch mal was Rumbaartigem, geschuldet Lights On A Satellite, der aktuellen Platte des SRA, die ebendieses Repertoire beinhaltet. Das ist explizit als Würdigung von Marshall Allen gedacht, der 1995 die Leitung des Arkestra übernahm – und zu dessen 100. Geburtstag man sich einen Ausflug durch 100 Jahre Jazzgeschichte auf die Fahnen schreiben wollte. Insofern wirkt das Konzert dann auch eher wie die von einer Bigband dargebotenen Nummernreihung einer Unterhaltungsrevue, in deren Rahmen man zwar ausgiebig soliert, aber immer wieder auch in eine Art „Sonderzug nach Pankow“-Swing zurückfällt.
Das ist – bis auf den überirdischen Farid Barron an den Tasten – natürlich längst nicht so aufregend, wie es mal war, verdient als Werkschau und Hommage aber allen Respekt. Erst zum Ende hin erblüht orientalische Opulenz samt nahöstlichen Skalen, während tranceinduzierendes, monotones, dauerrepetitives Gesumm zum Ohrwurm des Abends werden könnte. Vorher gibt’s noch schnell ‘nen stampfenden Spelunken-Groove, der sich selbst in die Südstaatenkirche verschiebt, wobei Sängerin Tara Middleton die stimmgewaltige Gospelblueslady auspackt. Die Bandvorstellung wird mit inzwischen schon gewohntem Leichte-Musen-Swing untermalt, dann ist da noch ein seltsames Space-Stück, und zum Schluss bleibt: etwas enttäuschte Erwartung.
Appetitmachender Ausblick: Wie klingt ein Picknicktisch?
Die wird von dem am Sonntagvormittag aufs Programm gesetzten Community Walk fortgeblasen. Der Kiezspaziergang nimmt die Moabiter Interventionen des gestrigen Vormittags auf, will dabei allerdings auch noch diverse kollektive Happenings unterwegs sowie im Jazz Institut Berlin, am OTTO-Spielplatz und im Refo Moabit bieten. Unter ordnungsgemäßem Polizeischutz spaziert man Marching Band-gleich durch die Nachbarschaft, erprobt dabei, wie festbetonierte Spiel- und Picknicktische klingen, animiert die Umstehenden – immerhin an allen drei Stationen insgesamt um die 800 Menschen – zu ausgelassenem Tanz und zeichnet am Onigiri-Stand von Performer Hiroki Mano Onigiri essende Hunde.
Oder man gibt, wenn man zufällig niemand anderes ist als die japanischen Underground-Helden der Otomo Yoshihide Special Big Band, einen appetitmachenden Ausblick auf den Abschlussabend, der um halb sieben auf der Großen Bühne des Festspielhauses eröffnet wird.
Dort wartet mit Darius Jones’s fLuXkit Vancouver erst einmal aber eine weitere Deutschlandpremiere auf den all des Jazz‘ immer noch nicht müden Zuschauer, gefolgt von den Poppy Seeds der Schweizer Pianistin Sylvie Courvoisier, deren neues Quartett mit elektronifizierten Vibraphonklängen berauscht. Dafür wird dann auch gern das Parallelprogramm im A-Trane geopfert, sodass nur noch die Entscheidung bleibt, ob man das Festivalfinale mit der gutgelaunten Otomo Yoshihide Special Big Band im Festspielhaus feiern möchte – oder lieber ins Quasimodo weiterzieht, wo Kontrabassist Joel Grip die Gimbri auspacken und als Teil des ländergrenzen- und genresprengenden Impro-Trios Oùat die Musiktradition eines bislang nicht auf der Landkarte erschienenen, imaginierten Ortes namens Oùatland aufleben lassen wird. Wer jetzt noch kann, ist eingeladen, beim Hang, offiziell: Jam-Session und Afterparty, langsam wieder aus dem Festivalflow aufzutauchen.
Unbedingter Bedarf
Den Punkt „Vergangenheit“ hat die 60, Ausgabe des Jazzfests Berlin mit Bravour erfüllt. Wir haben viel gelernt. Wurde der Punkt „Gegenwart“ angemessen abgedeckt? Absolut! Es gab so viel Zeitgenössisches zu entdecken, manches davon umwerfend großartig, manches zumindest interessant, nur weniges ein Totalausfall.
Und was ist mit dem Punkt „Zukunft“? Die ist ungewiss – und nach wie vor chronisch unterfinanziert. In der zum Jazzfest erscheinenden Berliner Zeitung stellte ich jüngst fest, dass sich die fortschreitende Prekarisierung und Unsichtbarmachung des Jazz erst dann ändern würde, wenn das Publikum nicht nur als passives Auditorium, dem etwas vorgeführt wird, sondern im Sinne eines in beide Richtungen offenen Teilen und Teilhabens aktiv in den Jazz eingebunden wäre, kurz: Wenn Jazz (wieder) zu einer Musik von Menschen für Menschen würde, an der nicht nur großes öffentliches Interesse, sondern unbedingter Bedarf besteht.
An mangelndem öffentlichen Interesse kann es nämlich nicht liegen. Das Jazzfest Berlin 2024 mit seinen insgesamt 24 Konzerten im Haus der Berliner Festspiele, A-Trane, Quasimodo und der Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirche sowie seinen kostenfreien Angeboten von Research Lab und Community Lab wurde von 9.000 Menschen – und damit von 2.000 mehr als im letzten Jahr – zwischen 6 bis 85 Jahren besucht, die zusammen 6.370 Tickets erworben haben. Die Angebote bei freiem Eintritt des Rahmenprogramms erreichten 300 weitere Personen, die Jam Sessions im Quasimodo 600.
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Das Jazzfest Berlin 2025 findet vom 30. Oktober bis 2. November unter der künstlerischen Leitung von Nadin Deventer statt, die noch bis einschließlich 2027 alle weiteren Festivalausgaben verantwortet.
Fotos: David J. Hotz
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