Zu Besuch bei … der jazzahead! in Bremen und dem Deutschen Jazzpreis in Köln

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Zu Besuch bei … der jazzahead! in Bremen und dem Deutschen Jazzpreis in Köln.

Hinter dem Horizont geht’s weiter

Jetzt, wo ich an einem leisen, sonnigen Sonntag an meinem Schreibtisch sitze, um Ihnen von der diesjährigen jazzahead! zu berichten – der immerhin weltweit größten Jazzmesse mit angeschlossenem Showcase-Festival, von dem Sie nicht zum ersten Mal hören, schließlich waren Sie schon 2022 unter dem Motto „Wieder zusammen“ und 2023 mit vorsichtig optimistischer Prognose nachträglich mit mir dabei –, komme ich nicht umhin, einmal mehr festzustellen: Nach dem Jazz ist vor dem Jazz.

Zwischen der diesjahr mit Anfang April verhältnismäßig früh über die Bühne gegangenen jazzahead! und heute lagen für mich noch der Deutsche Jazzpreis, der dieses Jahr von der Messe abgekoppelt Mitte April in Köln stattfand, außerdem XJAZZ Anfang Mai in Berlin, Elbjazz Anfang Juni in Hamburg und die vom Berliner Senat einberufene Juryarbeit zur Vergabe von Aufnahmeterminen. Kurz: Für mich stand der Frühling und Sommer 2024 unter dem Motto „Koffer packen, anreisen, Jazzen, abreisen, Koffer auspacken, Koffer wieder einpacken und das Ganze von vorn“. Neben der Entdeckung unfassbar guter (und ja, durchaus auch mediokrer) Musik ist das am dichten Takt des Jazz, dass er auch dem Büromenschen am eigenen Leibe einen Eindruck vom Lebensgefühl tourender Musiker erlaubt. Doch kommen wir erst einmal an unserer ersten Destination Bremen, unserem Temporärzuhause für die nächsten vier Tage, an – wo unter der Maxime „New Horizons“ der Startschuss zur 18. Messeausgabe fällt.

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jazzahead! – Souvenirs für Zuhause, Foto: David J. Hotz

Gleich bei der Eröffnungsfeier lässt sich‘s sich dank mehrerer musikalischer Acts trefflich sowohl auf das diesjährige Partnerland Niederlande als auch auf das Fokusthema „Jazz from Africa“ einstimmen – und natürlich auch auf das neue Leitungsduo der Messe, haben wir uns letztes Jahr doch von den langjährigen künstlerischen Leitern Ulrich Beckerhoff und Peter Schulze verabschiedet. Die neue Ära des Branchentreffens läutet – neben der bewährten Messechefin Sybille Kornitschky – Jazzjournalist und Labelmanager Götz Bühler als künstlerischer Berater ein, der auch durch das Eröffnungsprogramm führt. Hier lässt sich unter anderem in Erfahrung bringen, dass insgesamt 120 Konzerte auf die Messe- und Festivalbesucher warten. Die Messestände warten auch – teilweise jedoch noch darauf, von ihren Betreibern zum Leben erweckt zu werden: Obgleich die jazzahead! der Tradition folgend am Donnerstagmittag eröffnet wird, haben manche Aussteller bis Donnerstagabend noch nicht aufgebaut. Andere leisten sich sogar den Luxus, erst Freitag anzureisen. Pandemienachwehen? Reisemüdigkeit? Ein erstes vorsichtiges Zeichen auf den Relevanzverlust der Messe? Wir werden sehen.

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Am Donnerstagabend noch gähnende Leere, Foto: Victoriah Szirmai

Ohnehin stehen wir am Donnerstag nicht primär für die Messe, sondern für die begleitenden Showcase-Konzerte Gewehr bei Fuß, die wir dank überraschend zwischenfallsloser Bahnfahrt auch wie geplant sehen können. Nach einem Süppchen von sonnengereiften Rösttomaten, die das Press Office der immer schon an Tag eins arg abgespannten Journaille zur Stärkung kredenzt, steht für uns als allererstes das Konzert der Schweizer respektive polnischen respektive japanischen Sängerin, Pianistin und Komponistin Yumi Ito auf dem Programm. Deren Musik wäre fragil zu nennen, hätte Ito nicht solch ein kraftvolles Organ, dessen Intensität auch bald auf die Klänge ihres Trios abfärbt. Was davon im Gedächtnis bleibt, ist druckvolle Stärke und mitreißende Energie.

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Ohnehin die Schweizer!, Foto: Victoriah Szirmai

Ohnehin die Schweizer! Seit wir uns dort im letzten Jahr als Autoren-Fotografen-Duo vorstellten, gehöre auch ich (wenngleich wohl lediglich ob der Staatsangehörigkeit der anderen Duohälfte) mit zur Familie. Wir dürfen nicht nur die eidgenössischen Schließfächer benutzen, man gewährt uns sogar großzügig freien Zugang zum Backstage-Kühlschrank, in welchem – neben einer passenden Käseauswahl – wieder ein famos fruchtiger Westschweizer Epesses Blanc aus dem Hause Obrist wartet, diesmal in Form des Rocanel, hinter dem sich ein charakteristischer Epesses-Chasselas verbirgt, üppig, weißfruchtig, tiefgründig – und damit eigentlich zu (charakter-)stark als Aperitif (und definitiv zu stark für jeden, der nur ein Tomatensüppchen intus hat). Eingedenk der Tatsache, dass auch noch der Empfang der Sounds Good Music Agency auf dem Programm steht, die mit der Festival-Edition des Keller Pilses aus der lokalen Union-Brauerei Werbung für die anstehende Club Night macht, könnte man den ersten Messetag damit eigentlich als gelaufen betrachten. Jetzt angenehm angetüdelt in weiche Sofas sinken, Unsinn reden und den lieben Gott einen guten Mann sein lassen – das wäre fein!

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Kellerpils im Jazz-Gewand, Foto links: David J. Hotz, Foto rechts: Victoriah Szirmai

Aber wir sind diszipliniert. Auch wenn auf der Messe wie immer pünktlich um 17:00 Uhr die jeweilige alkoholische Länderspezialität ausgepackt wird (und der Gang zum Schweizer Kühlschrank zum wiederholten Male lockt), gelingt es uns, keinen Komplettabsturz hinzulegen, denn die Spätkonzerte des ersten Tages haben es in sich! Nach einem kurzen Blick auf Messegoodies wie den Enjoy Jazz-Kicker am Baden-Württembergischen Stand, die in Moos gepackten, stark nach Teer duftenden Salmiak-Pastillen der Schweden sowie die süchtigmachenden, isländischen Lakritz-Vollmilch-Kugeln in knackender Hülle, deren Packung extra für eine fotografische Notiz aus dem Papierkorb gefischt wird, geht es auch schon zum Trombone Ensemble von Nabou Claerhout, die uns letztes Jahr beim Showcase der Pariser Explosiv-Jazzer OZMA und später auch beim Jazzfest Berlin hingerissen hat. Das Oktett, ein langgehegter Traum Claerhouts, ist mit all seinem Suspense-angereicherten Drama noir im – dank seiner namensgebenden Vergangenheit immer ein bisschen makaber anmutenden – Schlachthof perfekt aufgehoben.

Linda Fredriksson’s Juniper, Foto: David J. Hotz

Noch mehr beeindruckt mich persönlich jedoch die finnische Alt- und Baritonsaxophonistin Linda Fredriksson, obgleich ich sie mit dem Repertoire ihres Albums Juniper – das übrigens die Top Ten der Pop(!)-Charts in Finnland enterte – bereits bei der ersten Ausgabe des Regensburger Jazzfestivals Sparks & Visions im Januar 2023 gesehen hatte. Woran’s auch immer liegt: Diesmal haut sie mich vollends aus den Schuhen. Reißt mich vom Sitz. Macht mich sprachlos. Ein guter Zustand, gegen ein Uhr nachts den ersten Tag der jazzahead! energetisiert und zufrieden, aber natürlich auch reichlich müde, abzuschließen.

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Es ist 15:15 Uhr!, Foto: David J. Hotz

Tag zwei beginnt für mich mit einem Empfang zur Teatime bei den Briten, die in Gestalt von Gründer und Editor Sebastian Scotney anlässlich des 15. Geburtstags der 2009 als Blog gestarteten, mithin zur unverzichtbare Webwissensquelle gewachsenen London Jazz News – einer leichten Exzentrik verpflichtet um exakt 15:15 Uhr – einen gigantischen (und sehr, sehr süßen) Victoria Sponge Cake anschneiden. Nachdem dieser verzehrt ist, gibt es noch eine Enthüllung: Die London Jazz News firmieren fortan als UK Jazz News, bildet man hier doch mittlerweile nicht mehr lediglich die Londoner, sondern die UK-weite Jazzszene ab.

Eine unverzichtbare Wissensquelle ist auch das deutsche Jazzthetik Magazin, dessen Stand nun besetzt und bestückt ist und zum Plausch mit alten und neuen Freunden lädt. Von der gefürchteten Belgian Reception, die sich ob des dort freigiebig ausgeschenkten Starkbiers, mit dem man sich völlig ins Abseits manövrieren kann, zuverlässig als böser Fehler entpuppt, bekomme ich dank der sich gern auch mal in allerlei Branchentratsch ergehenden Plaudereien am Stand und vorausblickender Schmerzvermeidung nichts mit. Meinen trinkfesteren Gefährten haut dagegen nichts so schnell um, sodass dem sich höchst meditativ ausnehmenden Konzert von Oran Etkin und seinem Open Arms Project samt einer fabelhaften Vanessa Ferreira am Bass nichts im Wege steht. Und dann geht’s auch schon zur Clubnight!

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Konzentriert am Kontrabass: Vanessa Ferreira, Foto: David J. Hotz

Diese findet diesjahr statt wie gewohnt am Samstag bereits Freitagnacht statt. 35 Spielstätten beteiligen sich mit mehr als 70 Konzerten (vom Beatbox-Weltmeister über Woody Allens Lieblingsgitarristen bis zur Avantgarde-Ikone Han Bennink, dazu ein eigens kuratierter Konzertabend in den Pusdorf Studios mit Nominierten des Deutschen Jazzpreises wie etwa dem Drummer Max Andrzejewski mit seinem Projekt Hütte) – und am liebsten würde man ein jedes davon sehen! Allein, der Empfang der Sounds Good Music Agency am Donnerstag hat mich auf die Union Brauerei neugierig gemacht, ist diese doch erstmals bei der Clubnight als Spielstätte dabei. Neben der geschichtsträchtigen, 1907 gegründeten und – nach ihrer vorläufigen Stilllegung im Jahr 1968 – 2015 mit einem 20-Hektoliter-Sudhaus wiedereröffneten Location selbst und dem von der Freien Brau Union Bremen in Gestalt von vier Sorten vom Fass (Helles, Kräusen, Hanseat 2.0, Pale Ale) und verschiedenen auf Flasche gezogenen Bieren (dem jazzahead!-Kellerbier, Rotbier, Swabbie IPA, Immer Bock, Milkshake Pale Ale, Pumpkin Ale, Stadtmusikanten Bock, dem alkoholfreien Pils Freistil sowie dem ebenfalls nullprozentigen Weizen Freifahrt) gereichtem Hausgebrauten freue ich mich auf ein Wiedersehen bzw. -hören mit dem Matti Klein Soul Trio, einer Berliner Institution, die ich präpandemisch mehrfach in der Hauptstadt, aber noch nie außerhalb davon erlebt habe und deren selbstbetiteltes, von Axel Reinemer in den Jazzanova Studios Berlin co-produziertes Debüt in Wolkenoptik auf Translucent Blue Marbled Vinyl ich Ihnen dringend ans Herz legen möchte, sofern sie etwas für Vintage-Keyboards und -Orgeln übrig haben. Und wer hat das schließlich nicht?!

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Berlin in Bremen: Matti Klein, Foto: David J. Hotz

Auch, wenn der Abend in der Brauerei noch lang zu werden verspricht – unter anderem haben sich die Dänen von Girls in Airports angesagt –, straßenbahnen wir nach dem Trio-Set beschwingt zurück zur Messe, wo das nicht grundlos mit Preisen überhäufte Quartett Masaa wartet. Was Wikipedia etwas rustikal als „eine in Deutschland ansässige Band, die Weltjazz mit arabischen Liedtexten aufführt“ bezeichnet, ist tatsächlich eine wunderbar aufeinander eingeschwungene, nachgerade magische Kombo, dominiert von einem Sänger, dem „nichts Geringeres [gelingt], als selbst jene, die kein Wort Arabisch verstehen, sein Glück, seinen Schmerz und alle Empfindungen dazwischen nachgerade körperlich miterleben und sich in dieser Musik unabhängig von einer geografischen Verortung ganz wie zu Hause fühlen zu lassen“, um mich selbst aus der Mai/Juni-Ausgabe 2023 des Jazzthetik Magazins zu zitieren, denn treffender lässt sich das, was Masaa mit dem Hörer machen, meiner Meinung nach nicht beschreiben. Und: War die dort besprochene, immer noch aktuelle Platte Beit schon beeindruckend, ist das Erlebnis, die unfassbar intensive Stimme von Sängerdichter Rabih Lahoud live zu hören, noch einmal eine ganz andere Hausnummer. Um keinen Preis dieser Welt hätte ich das missen wollen. Beseelt fallen wir ins Bett.

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Glück, Schmerz und alle Empfindungen dazwischen: Masaa, Foto: David J. Hotz

Tag drei fühlt sich ein bisschen wie Urlaub an, genießen wir hier doch erst einmal die Annehmlichkeiten, die das legendäre Bremer Park Hotel zu bieten hat, angefangen von der Gegenstromanlage des beheizten Outdoor-Poosl über aufs Zimmer gelieferte Mischgetränke bis hin zum hauseigenen Fahrradverleih. Gerade Letzterer ist ein echter Gamechanger, denn auf der Messe kommen wie immer sehr schnell sehr viele ermüdende Kilometer zusammen. Allein der Weg über den gigantischen Parkplatz, den jeder, egal, aus welcher Richtung kommend, nehmen muss, erstreckt sich über eine etwa 10 bis 15 Minuten Laufzeit beanspruchende 1.100-Meter-Distanz, die optisch gemeinerweise weitaus kürzer erscheint. Das flache Bremen ist ein bisschen wie der Usedomer Strand, da denkt man ja auch, ach, ich lauf schnell mal zum nächsten Kaiserbad rauf, das kann ich ja schon sehen. Um dann Stunden später anzukommen. Warum ich bislang nie auf die Idee gekommen bin, mir für die jazzahead! ein Fahrrad zu leihen, weiß ich auch nicht. Ab jetzt gilt: Nicht mehr ohne, denn die Messetage sind bei aller Schönheit, allen akustischen und lukullischen Genüssen und aller netten Gesellschaft natürlich immer auch anstrengend. Allein die Luft und die Geräuschkulisse in den Messehallen ist eine enorme Belastung für den sensiblen Organismus, den viele der Jazz-People ihr Eigen nennen.

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Geistige Getränke, und das nicht zu knapp. Foto: David J. Hotz

Ganz zu schweigen von den geistigen Getränken. Immerhin ist es Samstagabend, da werden die Reste ausgepackt. Etwa vom Balkan, der Schnaps in rauen Mengen ausschenkt, während die Italiener ihren Amaro Averna Siciliano und die Isländer ihren Brennivín rausholen. Da steht unser Lieblinsgdekoschaf am dänischen Stand schon mal recht verlassen da, und auch der Heidelberger Kicker ist verwaist. Die Messe trinkt. Und trotzdem bittet die Musik mit drei spätnächtlichen Konzerten eindringlich um Aufmerksamkeit.

Den Auftakt unserer persönlichen Samstagnacht-Trilogie macht das Shuteen Erdenebaatar Quartet um die gleichnamige junge Pianistin mit mongolischen Wurzeln, die mit ihrem Quartettdebüt Rising Sun (2023, Motéma Records) dem klassischen Quartettformat trotz Standard-Jazz-Besetzung mit Klavier, Saxophon, Bass und Schlagzeug eine besonders frische, vor allem aber eigene Färbung verleiht. Kein Wunder, dass die Viererformation, die durch eine außergewöhnliche Raffinesse im Zusammenspiel besticht und einen emotional packenden, aufregenden Sound kreiert, eine Woche später den Deutschen Jazzpreis 2024 in der Kategorie „Ensemble des Jahres“ gewinnen wird. Hier weiß sie noch nichts davon, beweist aber einmal mehr ihr herausragendes Zukunftspotenzial.

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Großes Zukunftspotenzial: Shuteen Erdenebaatar Quartet. Foto: David J. Hotz

Weiter geht‘s mit Raw Fish, dem dänisch-italienischen Duo von Gitarrist Teis Semey und Giovanni Iacovella, das sich an den Schnittstellen von HipHop, Indie-Rock, elektronischer und improvisierter Musik tummelt und heute die Vokalistin Marta Arpini zu Gast hat. Vorab: Es wird weitaus weniger wild, als Punkjazzer Semey aus anderen Kontexten erwarten lässt, aber dennoch durchaus sehens- und hörenswert. Und tatsächlich ist das Raw Fish-Album Crudo das einzige, das ich von dieser Messe mitnehme – und das will was heißen.

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Weniger wild als erhofft: Raw Fish. Foto: David J. Hotz

Den Abend beendet der als „Supertalent“ gepriesene senegalesische Bassist Alune Wade, der die Bühne sonst schonmal mit Größen wie Joe Zawinul oder Marcus Miller teilt mit einem so emotionalen wie hypnotischen Sextett-Set, das die Klänge von Dakar, Paris und New York City zu einer mesmerisierenden, dunkelfunkelnden Melange verbindet. Was für ein wunderbarer Abschluss dreier (denn den offiziell noch zur jazzahead! gehörigen, aber von niemandem mehr wahrgenommenen Sonntag kann man nicht mitzählen) Messe- und Festivaltage, die mir persönlich diesmal freundlicher, weniger anstrengend, kurzum: gelöster erschienen als im letzten Jahr. Ob sich von diesem subjektiven Gefühl auf den Spirit einer ganzen Branche schließen lässt, sei dahingestellt.

Fakt ist: Die großen ungelösten Themen des heutigen Jazz – Einnahmen durch Tonträgerverkäufe sind so gut wie unmöglich, das Publikum bedarf einer Verjüngung bzw. die nachwachsende Generation muss für das Genre begeistert werden sowie das Nichtmehrvorhandensein der vorpandemischen Anzahl von Spielstätten und Medien – haben dieses Jahr eher eine weitere Verschärfung erlebt. Allein dadurch, dass der öffentlich-rechtliche Rundfunk hierzulande die Zusammenlegung von Sendestrecken im Abendprogramm sowie einen drastischen Abbau des täglichen Jazzangebots plant bzw. bereits (teilweise) verwirklicht hat. So kreisen auch die Befindlichkeiten des messebegleitenden Fachprogramms um die ewiggleichen Branchenprobleme, etwa „The Future of Jazz on the (Public) Radio“. Aber auch Panels zu „How the Indigenous Music in any given Country brings a distinctive style to its Jazz Scene“ oder „Mobility of Artists and Audience is the Biggest Source of Greenhouse Gas Emissions within the Cultural Sector“ gehören zum aktuellen Stimmungsbild, dem man beispielsweise mit „Sustainable Touring für Artists and Professionals“ begegnen möchte.

Die Messe selbst spricht von einem „zukunftsweisenden“ Event, an dem 2.985 registrierte Fachteilnehmer aus 66 Nationen sowie 14.490 Festivalbesucher (2023: 2.800 Fachteilnehmer aus 51 Nationen sowie 5.500 Messebesucher) teilgenommen haben. Es darf gehofft werden, dass die Besucherzahlen ein Omen für das wiedererblühende Jazzleben sind, das sich zu neuen Horizonten aufmacht. Wir selbst reisen erfüllt von schöner Musik, angefüllt mit Eindrücken, abgefüllt mit geistigen Getränken und ja, auch ein bisschen müde, wieder ab, nur, um unsere Koffer eine Woche später wieder zu packen, wenn die Verleihung des vierten Deutschen Jazzpreises in Köln ansteht.

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Erfüllt, angefüllt, abgefüllt. Foto: Victoriah Szirmai

Die ist insgesamt eine heikle Angelegenheit, welche mich auch lange vor diesem Text zurückschrecken ließ. Vor allem, wenn ich einerseits in meiner Eigenschaft als Journalistin darüber berichten soll, andererseits aber als Jurymitglied eine Verschwiegenheitserklärung unterzeichnet habe, die eben dies unmöglich macht. Man erinnere sich nur an den Wirbel, als jüngst zwei Jurymitglieder des Internationalen Literaturpreises des Hauses der Kulturen der Welt die dortige Preisvergabe kritisierten, was am ehesten noch auf gemischte Resonanz stieß!

Anstatt mich wie diese über Politik, Weltanschauung, Geld und Macht zu verbreiten, möchte ich mit dem Positiven beginnen: Der Deutsche Jazzpreis kann mit Fug und Recht als lernendes System bezeichnet werden. Vieles von dem, was letztes Jahr bemängelt wurde, hat man bei seiner diesjährigen Ausgabe behoben. Allem voran, dass die Awards wieder mehr nach musikalisch-ästhetischen denn nach politischen Diversitätskriterien vergeben werden.

Auch wurden etliche der letztjährigen 31 Kategorien zu nunmehr 22 Kategorien zusammengefasst, aufdass sich die Preisverleihung nicht wieder über zähe Stunden ziehen möge. Was gut für alle Teilnehmenden ist, andererseits aber solch abstruse Ergebnisse zeitigte wie jenes, dass in der zusammenfassenden Kategorie „Saiteninstrumente“ vier Bassisten nominiert wurden, aber – sehr zum Missfallen der Sechssaiterfraktion – kein einziger Gitarrist. Tatsächlich muss dieser entgegengehalten werden, dass es durchaus genügend Bewerbungen von Gitarristen gegeben hat, allein, die Bassisten haben die Jury aus rein künstlerischen Gesichtspunkten mehr überzeugt. Es mag eine seltene Häufung sein, doch muss man mit dieser wohl leben in dem Wissen, dass sie vermutlich einmalig war.

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Der Deutsche Jazzpreis, diesmal im E-Werk Köln. Foto: David J. Hotz

Besorgnis hingegen wurde schon im Vorfeld laut, als man bekannt gegeben hat, dass dieselbe Moderatorin, die bei der unrühmlichen Berlinale-Abschlussgala nicht mäßigend eingegriffen hatte, auch den Deutschen Jazzpreis moderieren sollte. Ob man denn auch hier mit einseitiger politischer Parteinahme bzw. deren unwidersprochener Hinnahme rechnen müsse, wurde gefragt. Der Jazzpreis versicherte, entsprechende Vorkehrungen getroffen zu haben, um auf der Bühne eine gewisse Ausgewogenheit herzustellen. Und so scheinen die als pro-palästinensische Aktivisten verdächtigen Künstler im Vorfeld dann auch entsprechend gebrieft worden zu sein, wie deutlich wurde, als der einschlägig bekannte Preisträger Bendik Giske (der wenige Wochen später beim Berliner XJAZZ Festival im Übrigen eine ganz hervorragende Solosaxofonshow spielen sollte) bei seiner Dankesrede dann immerhin auch „Free the Hostages“ murmelte, bevor er laut „Free Gaza“ rief, derweil sein Pali-Feudel dem Empfang vorbehalten blieb, auf der Bühne aber nicht zu sehen war. Das mag nicht jeden restlos von der weltanschaulichen Unparteilichkeit des Jazzpreises überzeugt haben, ist aber rein von der Sache her sauber gelaufen. Verfassungsfeindliches war öffentlich jedenfalls nicht zu sehen und zu hören.

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Dark’n’Stormy: Übern Damm ins Paladium zur After Show. Foto: David J. Hotz

„Diesmal“, resümiert auch der geschätzte Kollege Martin Laurentius im Magazin Jazzthing, „war gar kein Aufreger dabei“. Man scheint den Skandal im Jazzpreis-Umfeld ja schon richtiggehend zu erwarten, um sich genüsslich draufzustürzen. Doch auch ohne Eklat hat es der noch junge Deutsche Jazzpreis schwer genug, in der Szene Fuß zu fassen. Der ganzen Sache mehr Ansehen, Renommee und Prestige verleihen soll wohl die enge Verknüpfung mit dem Mutterland des Jazz in Form einer Vielzahl von US-Amerikanern in der Jury, von denen man sich zu Recht fragen kann, was sie bei einem Deutschen Jazzpreis zu suchen haben. Und das umso mehr, wo sie sich, rhetorisch seit Kinderbeinen weitaus besser geschult als jeder Europäer, in den internationalen Kategorien als preisträgerbestimmend und damit über die Verteilung deutscher Steuergelder entscheidend erweisen könnten. Diese Dubiosität gehört im Sinne einer sauberen Preisvergabe künftig dringend abgeschafft.

Apropos Preisgelder: Dieses Jahr wurde eindeutig an der Verköstigung der Galagäste gespart – und das ist auch gut so. Es war immer noch ein rauschendes Fest, bei dem es bis in die frühen Morgenstunden an nichts mangelte, allein, die Auswahl war kleiner und weniger opulent als letztes Jahr, sollen die Gelder doch nicht den geladenen Gästen, sondern den Musiker*innen zugutekommen. Die konnten sich 2024 über höhere Gewinne freuen: Wurden die Preisträger von 2021 bis 2023 mit jeweils 10.000 Euro bedacht, waren es in diesem Jahr jeweils 12.000 Euro, wobei auch das Nominierungsgeld von 1.000 auf satte 4.000 Euro gestiegen ist.

Auch die Musikbeiträge des Abends – Saxofonistin Angelika Niescier als Gewinnerin der Kategorie „Holzblasinstrumente“ im Duo mit dem Pianisten Alexander Hawkins, das als „Live-Act des Jahres“ nominierte Omer Klein Trio und der als „Künstler des Jahres international“ ausgezeichnete US-amerikanische Pianist Kenny Barron – waren durchdacht und passgenau, die Preisträger*innen standen im Mittelpunkt des Geschehens, die Laudator*innen lasen mit Herzblut ihre Texte. Bleibt zu hoffen, dass der Deutsche Jazzpreis auch in seiner fünften Ausgabe weiterhin seinen Horizont erweitert. Die Einreichfrist der Bewerbungen endet am 30. November 2024. Auch 2025 soll der Preis wieder in Köln verliehen werden – wann, steht jedoch noch nicht fest.

Die nächste jazzahead! dagegen findet aller Voraussicht nach vom 24. bis 27. April 2025 in Bremen statt.


Fotos: David J. Hotz & Victoriah Szirmai

About Author

Victoriah Szirmai hört Musik und schreibt darüber. Sie studierte Musikwissenschaften mit Schwerpunkt Musiksoziologie und Rock/Pop/Jazz-Forschung sowie Philosophie und Hungarologie an der Humboldt Universität zu Berlin; außerdem Fachjournalismus mit Schwerpunkt Musikjournalismus am Deutschen Journalistenkolleg. Hier gewann sie mit ihrem Essay-Manifest „Zeit zum Hören – Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus" den ersten Preis des Schreibewettbewerbs „Journalistische Trendthemen". Szirmai schrieb sieben Jahre lang für das HiFi-Online-Magazin fairaudio, außerdem für die Jazzzeitschrift Jazz thing und das (ehemalige) Berliner Stadtmagazin zitty. Aktuell arbeitet sie für den Berliner tip und für Jazzthetik, das Magazin für Jazz und Anderes, wo in ihrer mit der Nachtseite der Musik flirtenden Kolumne „Szirmais Fermaten" ganz viel Anderes und vor allem Leonardcoheneskes stattfindet. Ein weiterer Interessenschwerpunkt ist ästhetische Objektivität.

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