Zu Besuch beim … Jazzfest Berlin 2022. Ein Festivalbericht.
Töne & Geräusche & Stille oder: Kopfhängender Fisch im Mixer oder: Alles in allem alles zu viel.
Victoriah Szirmai
Für manche beginnt nach der Sommerpause die Ballsaison. Für mich die der Jazzfestivals, wobei mit Blick auf den Kalender festgehalten werden muss, dass nach dem Festival nicht vor dem Festival, sondern im Grunde immer Festival ist, weshalb ich mich nur zwei Wochen nach dem Besuch von be kind, der ganz im Zeichen sinnlicher Entschleunigung stand, gleich wieder in weitere vier Tage gefüllt mit Avantgarde-Jazz und improvisierter Musik stürze.
Im Gegensatz zum be kind-Programm, das ich einfach auf mich habe zukommen lassen, weiß ich beim Jazzfest Berlin recht genau, was mich erwartet – nicht nur aufgrund vergangener Festivalbesuche, sondern auch, weil ich für eine Berliner Tageszeitung den Vorbericht schreiben und dabei einmal mehr Kuratorin Nadin Deventer auf den Zahn fühlen durfte, die seit fünf Jahren die künstlerische Leitung des Jazzfestes innehat und in dieser Zeit der über die Jahre – denn immerhin gibt es das Jazzfest Berlin bereits seit 1964, wobei es damals noch unter dem im Grunde treffenderen Namen „Berliner Jazztage“ firmierte – behäbig gewordenen Institution in politischer, ästhetischer und musikalischer Hinsicht dringend benötigte Frische einzuhauchen verstand, was so manchem Gewohnheitsgänger missfiel, auf jeden Fall aber das so sagenumwobene wie schmerzlich vermisste „junge Jazzpublikum“ anzog.
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Frisch saniert ist auch die traditionelle Austragungsstätte des Festivals. Doch obgleich das Haus der Berliner Festspiele wieder im Mittelpunkt der unter das Motto „Moving Back/Forward“ gesetzten Feierlichkeiten steht, verspricht ein munteres Location-Hopping auf mich zuzukommen, finden die wirklich interessanten Dinge doch erfahrungsgemäß jenseits der großen Bühne in den kleinen Clubs statt. Alles sehen bzw. hören kann man ohnehin nicht, denn die beteiligten Venues werden zeitgleich bespielt. Sogar im Festspielhaus selbst gibt es dank Großer Bühne, Seitenbühne und Kassenhalle zumindest am fortgeschrittenen Abend ein paralleles Programm. Und so bastelt sich dann auch jede:r Besucher:in nach dem Baukastenprinzip ihr bzw. sein eigenes Jazzfest. Auf meines möchte ich Sie gern mitnehmen.
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Gleich am ersten Abend stehen drei Konzerte in drei verschiedenen Spielstätten auf meiner Liste. Nach dem Eröffnungskonzert durch das vierköpfige The Hemphill Stringtett um die erst jüngst mit dem Herb Alpert Award in Arts ausgezeichnete Cellistin Tomeka Reid auf der Großen Bühne des Festspielhauses warten die Charlottenburger Traditionsclubs A-Trane und Quasimodo auf mich. Aber von vorn. Das aus vier Ensembleleitern zusammengesetzte Streichquartett spielt Werke seines Namensgebers Julius Hemphill, eines US-amerikanischen Creative Jazz-Altsaxophonisten, die eigens für das Quartett für Streicher arrangiert wurden. Von der Europa-Premiere erhofft sich Reid, die im Konzert auf ihrem Cello öfter mal den Walking Bass gibt, „it would be great if more string quartets incorporated this great music into their repertoires“, und bedankt sich bei dem Arrangeuren Marty Ehrlich und Subito Music „for making this music more widely available for us string players to play“.
Die Mixtur aus spröde erblühender Schönheit arnoldschönberg’scher Provenienz und mal swingendem, mal stampfenden Honkey-Tonk-Delta-Blues wird so manchen dann doch derart unbequem, dass sie fluchtartig den Saal verlassen. Und tatsächlich: Wer keine – mittlerweile auch schon einhundert Jahre alte – „Neue“ Musik mag, kommt hier nicht weiter. Dass es teilweise klingt wie das kollektive Instrumentestimmen im Orchestergraben, während sich der Konzertmeister ab und an aufschwingt, auf seiner Geige Töne an der Grenze zum Unhörbaren zu treffen, die sich gar nicht mehr auf dem Griffbrett, sondern kurz vor dem Steg der E-Saite befinden, hilft da nur bedingt weiter. Ich mochte es – aber ich stehe auch auf sperrige Streichquartette und kann sogar den einschlägigen Kompositionen Adornos etwas abgewinnen, insofern bin ich wahrscheinlich kein Maßstab.
Für längere Betrachtungen – sowie Hamid Drakes Hommage an Alice Coltrane und eine Auftragsarbeit des New Yorker Pianisten Craig Taborn, der unter anderem den Berliner Avantgarde-Kontrabassisten Nick Dunston an Bord hat, dem wir gerade erst bei be kind über den Weg gelaufen sind – bleibt indessen keine Zeit, denn ich muss zum A-Trane mit seiner gewohnt eigenwilligen, sich letzten Endes aber immer auch in Wohlgefallen auflösenden Einlasspolitik. Dort wartet die energetische Urgewalt der dänischen Improvisationsaltsaxophonistin Mette Rasmussen plus Band auf mich. Ich habe kurz Gelegenheit, mit Øyvind Larsen, dem Artistic and Managing Director vom Oslo Jazzfestival, über Rasmussens Europatour – die Berlin-Station sei der einzige Deutschland-Gig von insgesamt neun Konzerten, verrät er – zu sprechen, dann geht es auch schon los, ganz unprätentiös, dafür aber laut und gut, man wird – ganz gemäß des Titels ihrer aktuellen Veröffentlichung Traditional Noise – gehörig durchgespült, bis überraschend sanfte Töne angeschlagen werden und man in eine Art akzentuierten Stehblues verfällt, dessen Bass man sich als ein maximal federndes „Fever“ vorstellen muss, bevor das Stück „Love“, gewidmet der Liebe in all ihren Formen, Farben und Spielarten, die eher roughe Seite der Liebe zu beschwören scheint – und die von Rasmussen gleich mit.
Eher rough ist auch die mehrfach ausdrücklich als zwingend zur Performance gehörend angepriesene Bühnenverzierung, ein stoffgewordener Albtraum in schwarz und schreipink, der jeden Festivalfotografen in den Wahnsinn treibt, schwebt er doch der Saxophonistin mindestens die Hälfte der Zeit lang im Gesicht herum. Was auf der großen Bühne sicherlich seine Wirkung nicht verfehlt, gemahnt im winzigen A-Trane in seiner spinnenbeinhaften Puscheligkeit an übriggebliebene Halloween-Deko. Den zunehmend wilder werdenden Klängen indessen tut dies keinen Abbruch.
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Auf „Hashtag“ liefert sich Rasmussen ein Duett mit dem Tonband, von dem – nach einem Gedicht der Poetin und Performance-Künstlerin Anne Waldman – Worte wie gender, identity, revolution, anti-consumerism, climate change oder femizide zu hören sind. Zwei dieser Art von Wokeness augenscheinlich mindestens skeptisch gegenüberstehende Damen verlassen an dieser Stelle den Club, derweil das restliche Publikum begeistert tobt. „Updown Fish“ dann ist einem in Rasmussens heimischen Fenster kopfhängenden Deko-Fisch gewidmet. Manchmal, räumt sie ein, sei auch ihr Gehirn ein kopfhängender Fisch. Das Lied dazu klingt allerdings eher nach püriertem Fisch im Mixer – und das ist durchaus positiv zu verstehen. Rasmussens musikalisches Prinzip ist das Stakkato, wo Schwermetall an noch schwererem Metall reibt, brachial sekundiert von Ausnahmebassist Ingebrigt Håker Flaten, der uns im Festivalverlauf noch öfter begegnen soll. Oder wir ihm, je nachdem.
Zum Beispiel beim letzten Konzert für heute, das im in Laufweite (oder vielmehr: -nähe) gelegenen Quasimodo stattfindet. Dort vereint der portugiesische Tenorsaxophonist Rodrigro Amado unter dem Label Rodrigo Amado’s The Bridge eine Supergroup nicht nur zum Quartett, sondern auch zur Deutschlandpremiere. Ganz im Geiste des aktuellen europäischen Freejazz, dessen ungebrochene Lebendigkeit wir schon im A-Trane bezeugen konnten, geben sich Ingebrigt Håker Flaten am Kontrabass und Gerry Hemingway am Schlagzeug die Ehre – gekrönt von einem der selten gewordenen Auftritte von Alexander von Schlippenbach am Piano, der in frühen Jazzfesttagen als Junger Wilder mit seinem Globe Unity Orchestra für Randale im Festspielhaus sorgte, mittlerweile als 84-jähriger aber durchaus als ikonischer „Grandseigneur des Freejazz“ bezeichnet werden kann, der die leisen, feinen, ja: eleganten Töne verantwortet. Zumindest heute Abend ist das der Fall.
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Ansonsten macht der Quartettklang an der Stelle weiter, wo Mette Rasmussens Trio aufgehört hat: Es wird noch freier, noch roher, noch intensiver, und gleich nach dem ersten direkt vor der Bühne verbrachten Stück steht fest: Okay, jetzt bin ich taub. Aber das hat sich gelohnt. Während Amado, Flaten und Hemingway die tonalen Muskeln spielen lassen, stellt sich das Gefühl ein, der vorsichhinspielende von Schlippenbach sei in seiner eigenen Welt versunken, bis sich seine ganze ungebändigte Energie in einer Art Round Midnight-Trott entlädt. Immer weiter sinkt er dabei am Klavier in sich zusammen, derweil seine querharmonischen Tupfer zur Melodie erblühen.
Das weiß auch ein Publikum zu schätzen, das hier zum guten Teil gerade mal zwanzig Jahre alt sein dürfte. Kamen zu den Jazzfesten vor Deventers Kuration noch jene Altachtundsechziger, die mit von Schlippenbach & Co. samt dem Jazzfest in Ehren ergraut waren, hat der vielmals beschworene Generationswechsel nun tatsächlich stattgefunden. Und das nicht nur mit den jungen Protagonisten, die, wie Deventer sagt, als Identifikationsfiguren automatisch ein junges Publikum anziehen, sondern auch bei Konzerten wie diesem. Wir, die 40- bis 60-jährigen, gehören jetzt zur Alten Garde. Was mich irgendwie erfreut. Einer dieser jungen Zuschauer belehrt mich dann sogar, nicht wissend, dass ich hier arbeite: „Musik soll man hören, nicht fotografieren!“ The kids are allright, nehme ich an, die kommende Genauhinhörerschaft gesichert.
Auf der Bühne wirft man sich inzwischen einem Inferno entgegen. Ob in Gestalt des brachial-genialen Schlagzeugers, der mit seinem Pedal nicht nur die – um ihr Abheben zu verhindern extrafest in mehreren Schraubzwingen steckende – Bassdrum bedient, sondern auch die Hi-Hats, die dadurch von unten wie oben gleichermaßen bearbeitet werden. Es ist eine harte, postboppige, freischwingende Musik mit typischen Kopfnickeranteilen in Highspeed, gegen die jeder Headbanger’s Ball ein Singekreis im Kindergarten ist, derweil das Saxophon immer auch ein bisschen Hummelflug dazutut, von den anderen beim Simultanhörenundspielen exakt aufgenommen, ohne auch nur ein bpm an Tempo rauszunehmen.
Und dann plötzlich: eine Ballade. Smooth, ohne auch nur im Geringsten Smooth Jazz zu sein. Es fühlt sich eher an, als wäre jetzt, nach einer knappen Stunde, die Energie des ersten Festivaltages aufgebraucht. Bei Musikern wie Publikum gleichermaßen. Ich komme nach der Ballade nicht mehr rein. Manchmal erreicht Musik diesen „Reicht jetzt aber auch“-Punkt, und ich bin nicht allein, denn auch der Rest des Publikums schaut nun eher gequält, bis die Bassdrum nochmal alles rum- und alle mitreißt in ein fulminantes Finale, das jedoch nicht auf einen erlösenden Schlag endet, sondern noch einmal den Umweg übers Balladeske nimmt, bevor ein Publikums-Punk „Wow, wow, wow“ brüllt, was das Quartett dazu veranlasst, eine Zugabe zu spielen, obgleich diese im strengen Festivalzeitplan nicht vorgesehen ist. Mit meditativem Midtempo ermöglichen uns die vier Musiker ein schönes Runterkommen, sodass jetzt alle glücklich, zufrieden und gerockten Arsches heimwärts wanken. Was für ein Ausklang! Überhaupt: Was für ein Abend! Und es sollen noch drei weitere folgen …
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Heute bin ich spät dran, denn um Punkt 18:00 Uhr geht es – auch aufgrund verschiedener Live-Übertragungen – los, und wer nicht pünktlich ist, kommt nicht mehr rein, um Störungen im Saal zu vermeiden. Noch im Mantel sitze ich ganz vorn und kann auf Video festhalten, worauf ich mich schon die ganze Zeit freue: Die szenisch-konzertante Performance „MM schäumend“ – eine Ouvertüre für fünfzehn Handfeuerlöscher von Freejazz-Urgestein Sven-Åke Johansson, dessen – unabgeschlossenem – Lebenswerk ein Programmschwerpunkt gewidmet ist, ist er doch an nahezu allen Festivaltagen in irgendeiner Form präsent, ob im Trio mit Bertrand Denzler am Saxophon und Joel Grip am Bass, mit der für sein neues Quintett geschriebenen Kompositionsreihe „Stumps“, als Gast-Sänger der französischen Umlaut Big Band oder im Film „Blue For A Moment“. Johansson hat auf dem u.a. von Alexander von Schlippenbach und Peter Brötzmann, den wir im Festivalverlauf auch noch hören werden, 1968/69 gegründeten Berliner Freejazz-Label FMP (Free Music Production) Geschichte geschrieben, aber auch erst vor wenigen Jahren noch im Duett mit von Schlippenbach seine „Schraubenlieder“ veröffentlicht. Der Berliner Freejazz-Geschichte, die immer auch eng verbunden ist mit der Geschichte des Jazzfests, wird in jedem Falle umfangreich gehuldigt.
Heute also die Ouvertüre für fünfzehn Handfeuerlöscher. Die gab es vorab schon auf YouTube zu bestaunen, diesmal hat SÅJ, wie’s scheint, die gesamte – später noch am selben Ort zu hörende – Umlaut Big Band zur Feuerlöscherbedienung rekrutiert. Dass Gerät in der Lage ist, Musik zu machen, versteht sich nach dem Musikverständnis des gebürtigen Schweden von selbst, hielt er doch schon in seinem 1970er-Manifest Befreiung fest, Musik sei „Erscheinungsform von allem Hörbaren/Töne & Geräusche & Stille“. Und tatsächlich. Es ist prächtiger, schillernder, haptischer, plastischer, schäumender als auf YouTube. Man kann die Performance schon fast als interaktiv bezeichnen, denn natürlich landet der eine oder andere Schaumspritzer beim Publikum und wird von diesem geräuschreich kommentiert:
Sven-Åke Johansson dirigiert fünfzehn Feuerlöscher
Eine zehnminütige Umbaupause folgt, die alle Knappgekommenen nutzen, das Nötigste zu erledigen, von der Abgabe der Garderobe bis zur Klärung der Frage, was das da denn für ein Rotwein auf der Karte sei. Trocken, aus der Pfalz. Darf man die Gläser mit reinnehmen? Nein. Ich entscheide mich dagegen, einen Wein hinunterzustürzen, denn es geht auch schon weiter – und zwar mit dem Trio Karja/Renard/Wandinger um die estnische Pianistin Kirke Karja, die bei allem Minimalismus immer episch und bei aller Epik nie elegisch, sondern stets akzentuiert klingt, wohl nicht zuletzt geschuldet dem klangbestimmenden, paukenartig bedienten Schlagwerk Ludwig Wandingers, das klappert und quietscht, dass es eine Freude ist, und dieser schwer in Worte zu fassenden, aber nahezu greifbaren kühlen Wärme (oder von mir aus auch: warmen Kühle) des Pianotrios, in welcher immer eine gewisse Wohlerzogenheit mitschwingt, sodass auch in den alleraufregendsten und unbequemsten Momenten bis auf wenige Ausnahmen nichts passieren kann, das sich nicht mit einer heißen Tasse Morss lösen ließe.
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Während Wandinger sein von verbogenen Becken dominiertes Trommelwerk mal klingeln, mal rascheln, mal schnarren, zumeist aber klappern lässt, lotet der von Etienne Renard gerührte Bass schon mal aus, wie ein gestrichener Saitenhalter bzw. der stoffumspannte, untere Teil der E-Saite klingt (Spoiler: Er macht einen Drone-artigen U-Boot-Sound, hallend und gedämpft wie unter Wasser.), derweil er mit einer Art Hundenapf in der Linken, der ihm als Barré dient, das obere Griffbrett bearbeitet. Spätestens jetzt stellt sich das typische Jazzfest-Gefühl ein.
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In der nun folgenden Pause wird der rote Wein verkostet, der sich – dafür, dass er als unbestimmte Cuvée ausgewiesen ist – als erstaunlich trinkbar erweist, außerdem im Verbund mit einer der angebotenen Brezeln das genau richtige Maß an Stärkung für das Kommende verspricht, das in Form von Freejazz Enfant terrible Peter Brötzmann, dem ehemaligen angry young man und Saxophon-Provokateur, über uns herniedergehen soll. Der bekommt vorher aber noch einen Preis, denn Bert Noglik, von 2012 bis 2014 selbst künstlerischer Leiter des Jazzfestes, betritt in seiner Funktion als Juror des Preises der Deutschen Schallplattenkritik die Festspielhausbühne, um dem einstigen Bürgerschreck den Lifetime Achievement Award zu überreichen. In seiner kurzen Laudatio begründet Noglik den Lebenswerkspreis mit dem Argument, Brötzmann habe nicht nur unser Verständnis von Jazz, sondern von Musik generell verändert. Der mittlerweile 81-jährige Saxophonist nimmt die Preisurkunde gelassen entgegen und kommentiert nonchalant, dass es nun „nach all den schönen Worten ein bisschen Musik“ gäbe.
Die kommt neben Brötzmann himself in Gestalt des renommierten US-Schlagzeugers Hamid Drake und des marokkanischen Gimbri-Meisters – seine nordafrikanische Kastenhalslaute gilt auch als „Wüstenbass“ – Maâlem Moukhtar Gania daher, die sich zu einem Freejazz goes Gnawa Groove-Trio zusammengeschlossen haben, das Brötzmann mit einem für sein Alter erstaunlich kräftigen, geradlinigen Ton anführt. Übernimmt Gania die Leadvocals, passt sich das Saxophon den hypnotischen Gnawarhythmen an, indem es eine sehr nachdrückliche Schlangenbeschwörerflöte gibt, wobei es, gemessen am Volumen, schon ein ganzes Schlangennest sein muss, das da Beschwörung nötig hat. Dennoch ist das Ganze nachgerade melodisch zu nennen, Brötzmann korrespondiert mehr mit den Vocals als sie zu konterkarieren.
Provokant? Längst nicht mehr. Klangbildbestimmend bleibt das gemäßigt Hypnotische des knochentrockenen Wüstenfunks, dessen Wirkung sich aufgrund endloser Wiederholung der einzelnen Phrase entfaltet, und der, wenn Gesang dazukommt, zu Wüstensoul wird. Erst, wenn Brötzmann zur Klarinette greift und diese unter seinen Fingern mehr röhrt als es jedes Saxophon könnte, entfaltet sich der Sound zu einer Art Speedfunk, nach dessen kräftezehrendem Höhepunkt Brötzmann klingt wie ein sterbendes Tier, das sich aber schon bald von seiner Nahtoderfahrung erholt und – zwar noch höchst verwirrt, aber sehr vital – den ersten Standing Ovations des diesjährigen Jazzfestes entgegenstrebt. Wäre jetzt Schluss, man könnte einmal mehr beglückt nach Hause gehen!
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Doch soll der Spätabend noch im Zeichen von „Playing the House“ stehen, wenn das Festspielhaus auch jene Orte öffnet und bespielen lässt, wo das Publikum ansonsten nichts zu suchen hat. Das muss man natürlich sehen und nimmt deshalb auch die nun folgende, einstündige Umbaupause in Kauf, obgleich sich der Abend merklich in die Länge zieht und einem noch die lange Clubnacht des Vorabends in den Knochen steckt. Andererseits: Was soll das Gejammer! Wenn Senioren wie von Schlippenbach und Brötzmann noch spielen wie sie spielen, werden wir ja wohl noch zuhören können!
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Trotzdem tut die Pause gut, um Ohren und Sozialradar vom Netz zu nehmen und einfach mal durchzuatmen. Neben dem mittlerweile schon bekannten und für okay befundenen Wein wird einem Linsen-Tomaten-Süppchen eine Chance gegeben, was eine gute Idee ist, denn es schmeckt und wärmt. Noch während ich im Gespräch mit alten Bekannten bin, die man hier zuverlässig jedes Jahr (wieder-)trifft, geht es direkt vor unserer Nase im oberen Foyer schon wieder los mit Schlagzeugerin Camille Émaille, die mit einem Soloset an der Tapan, einer zweifelligen Zylindertrommel aus der Schwarzmeergegend, überrascht, derweil unten jetzt nicht nur die Kassenhalle bespielt wird, sondern auch das Bühnenhaus der Hauptbühne, das üblicherweise den Auftretenden vorbehalten ist.
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Dieser Umbau ermöglicht eine neue Raumerfahrung auf direkter Augenhöhe mit den Musiker:innen, die in Form eines Trios um Jazzfest-Protagonist Sven-Åke Johansson, das deutsch-italienisch-französische Quartett Die Hochstapler und letzten Endes in Form der Umlaut Big Band, zu der sich noch Tänzer aus Berlins Swing Community gesellen sollen, bis weit nach Mitternacht zur restlos ausverkauften Party einladen.
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Ich schaue mir das Bühnenhaus an und genieße es, mich wie bei einem Wandelkonzert um die Band herum zu bewegen und jede Stelle des hinteren Bühnenteils zu erkunden. Doch auch, wenn die steife Frontalatmosphäre der Saalkonzerte verpufft ist, schlägt die Müdigkeit unbarmherzig zu. Schon jetzt ist alles in allem alles zu viel. Die Eindrücke des Abends wollen verarbeitet werden, der Aufnahmespeicher ist restlos gefüllt. Mich persönlich lockt nur noch die bislang nie erkundete Kulisse: Es ist superspannend, die Bühne aus Künstlerperspektive zu erleben, ein bisschen wie bei „Berliner Unterwelten“, diesen behind the stage- bzw. below the Erdboden-Führungen durch Tunnel-, Bunker- und andere, größtenteils unterirdische, Systeme der Stadt. Ich bedaure, dass ich die Swingparty nicht mehr erlebe, gebe aber meiner Überforderung nach und greife mir ein Taxi nach Hause.
Es ist charakteristisch für das Jazzfest: Die Entscheidung für etwas bedeutet auch gleichzeitig immer die Entscheidung gegen etwas anderes. Das erzeugt Stress und in manchen Fällen sogar Lähmung. Am kommenden Abend werde ich es ruhig angehen lassen. Mehr als zwei bis maximal drei Konzerte pro Abend, lerne ich, sind nicht verarbeitbar.
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Da kommt der Locationwechsel am nächsten Abend gerade recht. Das Jazzfest lädt in die Gedächtniskirche, um mit osteuropäischen Volksliedern einem – dem Krieg gegen die Ukraine geschuldeten – weiteren Schwerpunkt dieses Jahres Raum zu geben. Diese kommen hier in Gestalt von Transylvanian Folk Songs daher, dargeboten von dem rumänischen Pianisten Lucian Ban, dem englischen Saxophon- und Klarinettenspieler John Surman sowie dem US-Avantgarde-Geiger Mat Maneri. Kuratorin Nadin Deventer lässt es sich, trotz parallel laufenden Programms im Festspielhaus, nicht nehmen, in den Abend einzuführen, was die diesjährige Relevanz des osteuropäisch-volksmusikalischen Fokus‘ noch mehr betont.
Das Trio selbst hat sich elf der 3.000 seinerzeit von Béla Bartók auf Wachszylinder gesammelten und anschließend transkribierten Songs angenommen, darunter Doynas – traditionell rumänische Tänze, die vermutlich mitteleuropäischen Ursprungs sind und sowohl in die Musik der rumänischen Bauern als auch in das Repertoire von Klezmermusikern Eingang gefunden haben, Carols und ja: sogar ein verfrühtes Weihnachtslied. Den Auftakt in der sakralen Räumlichkeit macht eine heiser-kratzige Sologeige, deren Mikrophonierung derart krass geraten ist, dass man jeden Atemzug des Spielers überdeutlich hört. Eine warme Bassklarinette gesellt sich dazu, deren wohltuender Klang in seltsamer Diskrepanz zum gewollt disharmonischen Zusammenspiel der beiden Melodieinstrumente steht. Das ist nicht immer angenehm, andererseits gilt: Wer es angenehm will, muss andere Festivals besuchen.
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Die Darbietung des Trios Ban/Surman/Manieri kratzt allerdings von der falschen Seite an meiner Wohlfühlgrenze, da die Geige – ein Rieseninstrument, das von ihrer Bauweise einer Bratsche in nichts nachsteht – es sich nicht nehmen lässt, des Öfteren ein Geräusch hören zu lassen, das klingt, als ob man mit Fingernägeln über eine Tafel kratzt. Als ob man auf Alufolie beißt. Wenn sich Ihnen jetzt unwillkürlich die Zähne zusammenziehen, wissen Sie, was ich meine. Wenn das Ganze noch von einem plötzlich in die Tasten hauenden Klavier unter- oder eher übermalt wird, steht endgültig fest: Lullabies sind das hier nicht! Und wenn dann auch noch die Bassklarinette voll ins Rohr brötzt, scheint man jegliche folkloristische Basis zu verlassen und einem sehr, sehr freien Freejazz zuzustreben.
Freejazz ist großartig, wenn er körperlich ist, wenn die Musiker Blut, Schweiß und Tränen lassen. Wenn sie einfach nur frontal dasitzen und so schräg wie möglich spielen, mag das den Intellekt kitzeln, macht mich persönlich aber nervös und aggressiv, müde und gelangweilt. Derweil erklärt der Geiger das Konzept dieser Songs, die das drama of humanity in micro-tones expressen, derweil es seine Bestrebung sei, to re-express these. Vielleicht bin ich heute einfach nicht aufnahmefähig für Drama. Ich habe Ohr- und Zahnschmerzen. Nach nur vier Songs verlasse ich die Kirche.
Und das war genau richtig, denn gerade noch pünktlich gelange ich – obgleich der Weg maximal 15 Fußminuten bzw. zwei innerstädtische Busstationen beträgt – im Festspielhaus an, wo Matana Roberts mit „Coin Coin Chapter Four: Memphis“ die Dreier-Konzertreihe auf der Großen Bühne beschließen soll. Als ich ankomme, treibt gerade die Glocke die vor dem Festspielhaus rauchend, trinkend, kauend und plaudernd versammelten Menschen wieder in den Saal. Ich habe Glück und wieder einen Platz in der ersten Reihe – und die heimliche Hoffnung, dass es heute keinen Löschschaum regnet.
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Was folgt, ist in jedem Falle eins nicht: disharmonisch. Vielmehr führt Roberts wie eine Zeremonienmeisterin durch die Europapremiere des Vierten Kapitels ihres Coin Coin-Projekts, das sich der Dialektik kulturellen Reichtums und rassistischen Alltags in Memphis annimmt. Stichwort Zeremonie: Genauso beginnt die Show. Roberts tänzelt majestätisch mit einer zeptergleichen, gigantischen Feder in der Hand auf die Bühne, begleitet von einem dauerrepetierten a-cappella Ah-hmmm-Gesang ihres Orchesters, über dem sie eine Art SloMo-Jodeling anstimmt, bevor sie anhebt, ihr Saxophon zu blasen, das zunächst den Ton dieser sehr südstaatlichen Atmosphäre aufnimmt, bald aber schon ins freie Idiom fällt, derweil sie als rigide herrschende Bandleaderin ihre Rhythmusgruppe großgestenreich nach ihren Vorstellungen formt, bevor sie die Spoken Word-Poetin gibt. Überfordert? Wait for it!
I am a child of the wind, rezitiert sie, even daddy said so. We used to race and I would always win. And he’d say „Run baby run, run like the wind, that’s it, the wind“. Memory is a most unusual thing“, derweil ihre Band – darunter eine Folkfiddlerin, die auch E-Gitarre und Akkordeon spielt sowie als Sängerin reüssiert, ein Oud-Spieler, der auch zur Vintage-E-Gitarre greift, die er spielt wie die Laute und umgekehrt, ein Schlagzeuger, der allein eine ganze Drum-Batterie ist, manchmal aber einfach auch nur Maultrommel spielt oder hinter seinem Marimbaphon verschwindet und ein Bassist, er allein aufgrund seiner Optik locker bei Tzadik, dem Plattenlabel von John Zorn, veröffentlichen könnte – wieder in den Ah-hmmm-Chor zurückfällt und Roberts selbst – nach Sunday und Monday – die Tuesday-Strophe des Gedichts nicht nur rezitiert, sondern gewissermaßen spiritualisiert, untermalt von einer ebenfalls von ihr geblasenen Mundharmonika, die ein knirschendes Glucksen hören lässt.
Durch den großen Halbkreis, in welchem sich die Musiker über die Bühne verteilen, bleibt die Aufführung – und das ist das große Manko des Festspielhaussaals – dennoch seltsam distanziert. Erst, als das Ganze in einen schweren, schleppenden Blues überführt wird, kommt so etwas wie Körperlichkeit auf, die beim Sea Chanty „Roll the Golden Chariot“, das sich mit lungenkräftiger So we’ll ro-o-oll the old chariot along-Unterstützung des Publikums in ein Spiritual verwandelt, noch potenziert wird. Für diesen Moment hat sich der Abend gelohnt.
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Noch einmal wird die maultrommelunterlegte Rezitation aufgenommen, nach welcher die Band klingt wie bei einer Ouvertüre, die nun aber nicht mehr Vorwegnahme, sondern Zusammenfassung ist, inklusive angegospelter Zitate aus dem Spiritual „This little light of mine (I’m gonna let it shine)“. Matana Roberts steuert souverän auf ein fulminantes Finale zu, in welchem sie zur feuerroten Klarinette greift, um mit dem allesdurchdringenden Appell, stolz darauf zu sein, wer man ist, zu enden, bevor als Zugabe der gebrochen-flüsternd vorgetragene Patti Page-Klassiker „Tennessee Waltz“ in charakteristisch waidwund-warm-weher Memphis-Emotionsmixtur als heimlicher Höhepunkt der Show in die Umbaupause entlässt.
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Spinatsüppchen, Schluck Wein, weiter. Denn heute stehen noch die Black Sea Songs von Sanem Kalfa an Vocals und Elektronik, George Dumitriu an akustischer und E-Geige, Viola und Effekten sowie Joachim Badenhorst an der Klarinette auf dem Programm, die ich unbedingt hören will. Zu Recht, denn sie entpuppen sich als zerbrechlich düstre, mollgetönte Stange Fruit-artige Lieder, denen etwas Schmerzhaftes im Nahultraschallbereich eignet, wozu die sich wunderbar windende Hypnosestimme Kalfas mal fleht, mal schmeichelt, sensibel sekundiert von zwei Musikern, die nicht nur in der Lage sind, ohne DJ einen Broken Beat zu kreieren, sondern auch den Stücken viel, sehr viel Zeit und Raum zum Atmen zu geben.
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Die elektronischen Effekte machen dank einer Verfremdung, wo die Viola eine Bassklarinette sein könnte und umgekehrt, die Vorführung noch düsterer, noch verlorener. Immer mehr spielt sich die Elektronik in den Vordergrund, bis sich die bekannten Schwarzmeerlider, darunter „Nani Nani Oy“, „Ayna Ayna Ellere“ und das sich hier unter reichlich Bassklarinettengequietsch präsentierende „Cântec de la Marea Neagră“ mit seinem eingängigen dam-didi-didi-da-ri-daaaa-Refrain, auf den vermutlich sämtliche Schwarzmeeranrainer Urheberrecht erheben, anfühlen, als seien sie Portishead in die Fänge geraten und triphopisiert wieder ausgespien worden.
Wieder mal war es eine Seitenbühne, auf der fernab vom großen Getöse das wohl beste Konzert des Festivals stattgefunden hat. Überflüssig zu erwähnen, dass die auf CD gebrannten Black Sea Songs als einziges Souvenir-Album vom Jazzfest mit nach Hause kommen durften. Allein den Socken vom Merch-Stand konnte ich ebenfalls nicht widerstehen. Ich bin übersättigt von Musik, fang mir ein Taxi und lass mich nach Hause fahren.
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Tag vier, der schon früh am Sonntagmorgen mit Konzerten im Fasanenkiez beginnt, hätte es für mich nicht mehr gebraucht. Andererseits kann man sich das große Finale mit Gard Nilssens Supersonic Orchestra, das sein neuestes Album If You Listen Carefully the Music is Yours vorstellt, nicht entgehen lassen. Noch dazu, wo sich hier das Who Is Who der skandinavischen Jazzszene vereint, inklusive einer von Petter Eldh, Ingebrigt Håker Flaten und Ole Morten Vågan gebildeten Drei-Kontrabass-Front, derweil Mette Rasmussen noch einmal – ebenso wie ihr Wahlberliner Kollege Otis Sandsjö, der gemeinsam mit Petter Eldh im Trio von Lucia Cadotsch Speak Low spielt – zum Saxophon greift. Nilssen selbst leitet das Orchester vom Schlagzeug aus, was er mit Festival-Star Sven-Åke Johansson gemein hat, womit sich einer der vielen kreisförmigen Erzählstränge schließt, die das Jazzfest so zuverlässig aufmacht wie es ein Füllhorn musikgewordener Überforderung auf die Beine stellt. Mein Gehirn ist jetzt auch ein kopfhängender Fisch, dennoch weiß ich schon, was ich nächstes Jahr wieder bin: dabei.
Save the date: Die nächste Festivalausgabe findet vom 2. bis 5. November 2023 statt.