Unbestritten hervorragend
Paul Kleber | Little Home
[Label: XJAZZ Music]
Unlängst durfte ich an dieser Stelle die geschätzte HiFi-IFAs-Leserschaft auf eine Reise nach Bremen und Köln mitnehmen, deren Bericht ankündigte, demnächst stünde in Berlin auch noch das XJAZZ-Festival auf dem Programm, denn – Sie ahnen es aufgrund des mittlerweile zum Mantra dieser Kolumne gewordenen Treppenkommentars schon – nach dem Jazz ist vor dem Jazz.
Klar, dass ich trotz einer gewissen Ermüdung auch die diesjährige Ausgabe des regelmäßig am zweiten Mai-Wochenende in Berlin-Kreuzberg über die Bühne(n) gehenden XJAZZ-Festivals – eine 2014 von Trompeter Sebastian Studnitzky ins Leben gerufene, mit vielerlei Club-Beats auf junge Party-People abzielende Konzertreihe rund um Jazz, Electronica und Neo-Klassik – nicht verpassen wollte. Allein schon, weil ich Lieblingssaxophonist Shabaka Hutchings, der sich nunmehr dem Spiel verschiedenster Flöten zugewandt hat, hören wollte. Weil ich vom perkussiven Klang seines norwegischen Instrumentalkollegen Bendik Giske, allen politischen Differenzen zum Trotz, fasziniert bin. Und natürlich, weil ich Ihnen eine ganz besondere Platte mitbringen wollte – und auch mitgebracht habe.
Die Rede ist vom ersten wirklich eigenen, hausinternen auf XJAZZ Music veröffentlichten Album des Berliner Bassisten Paul Kleber, den die meisten als gestandenen Sideman beziehungsweise festen Bestandteil von Acts wie dem Lisa Bassenge Trio, Micatone, Nylon, JazzIndeed, Moka Efti Orchestra oder Sonar Kollektiv Orchester kennen dürften – und sicherlich auch das eine oder andere Teil seiner umfangreichen Diskographie, die Auftritte auf den Alben bzw. Bühnen von Künstlern wie Jazzanova, Sebastian Studnitzky, Emiliana Torrini, DeeDee Bridgewater, Annett Louisan oder Fink umfasst, im Plattenregal zu stehen haben.
Trotz seiner ohnehin schon beeindruckenden Karriere erfüllt sich für den 1973 Geborenen mit Little Home ein langgehegter Traum: nämlich der eines Soloalbums, wobei solo im Jazz ja so eine Sache ist. Little Home würde mit Sicherheit anders klingen, wären neben Kleber nicht Uri Gincel an den Tasten, Sebastian Studnitzky an Trompete und Flügelhorn und Tobias Backhaus an den Drums zur Stelle. Ja, man möchte am liebsten vom Paul Kleber Quartett sprechen, dessen Musik – wie selbst der Ein-Stern-Rezensent auf Amazon, der offensichtlich eine Fehlprägung erhalten hatte – „unbestritten hervorragend“ ist.
Vorab: Im erweiterten Haushalt wohnen gleich zwei Exemplare des Little Home-Vinyls, und beide weisen keinerlei Mängel auf. Es wäre auch zu schade um die von Axel Reinemer von Jazzanova in den Jazzanova-Studios aufgenommene, von Boris Meinold von Micatone gemixte und Arnold Kasar von Micatone/Nylon gemasterte Scheibe, die hiermit all die Berliner NuJazz-Heroen der späten Neunziger- und frühen Nullerjahre vereint und damit, wie Kleber selbst es ausdrückt: „eine recht familiäre Angelegenheit“ ist – und sich mit ihrer klassischen Neun-Track-Länge und ihrem warmen Ton so wohlig wegknuspert wie eine gestohlene Tea for One-Stunde!
Gleich der „A Little Loving“ betitelte Auftakt, ein instrumentales Remake des 2015er-Bassenge/Kleber-Klassikers, der hier weniger erotische Sinnlichkeit, dafür mehr wärmende Tiefe verströmt als das Original, zeitigt dieses durchsonnte Frühherbstgefühl, ins das man sich, voller Vertrauen darauf, gut aufgehoben zu sein, rücklings hineinfallen lassen möchte. Zumindest bis zum Break bei Minute 3:22, denn da erwacht allerlei wildes Getier, was den perlenden Modern Jazz Sound immer noch nicht zum Free Jazz macht, aber zeigt, wie ernst dieses Quartett zu nehmen ist. Kurz: Dieses Album – allein für diesen Song!
Mehr Biss hat „Fourty“, ohne den Hörer aus seinem luxuriös-komfortablen Flow herauszuholen, besticht es doch mit einem eingängigen Thema, durch das sich ein zur Hochform auflaufender Studnitzky prächtig pflügt, während „Poisson d’Or“ in träumerisch-verwunschenen Teichen gründelt, derweil sich späte Sonnenstrahlen im noch dichten Blattwerk der Bäume brechen und ein seltsam unwirkliches Flirren zeitigen, das einen für eine Songlänge – denn wir haben es hier eher mit Songs denn mit Stücken zu tun – von der Realität trennt und aus diesem Grund auch nicht so direkt berührt wie die folgende „Nachteule“, deren Basslauf, vor allem gemeinsam mit dem Klavier, ganz klar auf die Magengrube (und danach auf jene Stelle im Herzen, wo die Lieblingssongs wohnen) zielt, obgleich es sich auch hier auf den ersten Blick um einen nachtverhangenen Track handelt, dessen zugrundeliegende Nervosität und Schärfe erst später auffällt, dann aber entschlossen zupackt, derweil Gincels Spiel zum letzten Drittel hin so prächtig funkelt, dass man es sich am liebsten um den Hals legen und zur großen Gala ausführen möchte!
Die „Clouds“ tragen ihren Kopf in den nämlichen und ziehen sanft plätschernd, sofern dies Wolken möglich ist, vorbei, kurz: Sie stören nicht weiter, hinterlassen aber nun auch nicht den bleibendsten aller Eindrücke. Wieder interessant dagegen der vor allem durchs präparierte Klavier dominierte düstere Groove auf „Gamechanger“, der später in latineske Feierlaune ausbricht, um sich noch später in retrofuturistisch biependen Weltenschleifen zwischen psychedelisch und kosmisch zu verlieren, wo – unter tat- bzw. lungenkräftiger Unterstützung der schon an anderer Stelle ohrenfällig gewordenen, von Florian Menzel an Trompete und Flügelhorn, Ben Kraef an Tenorsaxofon und Flöte sowie Sebastian Borkowskian der Bassklarinette gebildeten Bläsersektion – eine Art uferlos-universaler Rave lauert, den sicherlich auch der größte Techno-Hasser goutiert, bis das dumpf präparierte Piano des Anfangs alles und alle wieder einfängt. Was für ein Trip!
Wie gut, wenn hernach ein „Little Home“ auf einen wartet, das einen sicher umfängt – aber auch aufregend genug ist, um sich dann und wann nicht nur zu Erholungszwecken vor der Welt zu verstecken, oder, wie Gincel an den vocoderverzerrten Vocals dichtet, „a space to shape“. Und das ist doch das Schönste an einem Zuhause: dass es jederzeit im Werden begriffen ist und es „no resting without moving“ gibt. Das gilt auch für diese durch Klebers unfassbar einfühlsames, sich nie in den Vordergrund drängendes Spiel charakterisierte Platte selbst, auf der sich ein neues All-Star-Quartett gefunden hat, das man im Pop als „Super Group“ bezeichnen würde und mit dem XJAZZ Music – wo Kleber nicht nur veröffentlichender Künstler, sondern praktischerweise neben Sebastian Studnitzky gleich auch noch Co-Labelchef ist – ein kleiner Geniestreich gelungen ist.
Paul Kleber Quartett, „Mr. Stringer“ & „Nachteule“ @ XJAZZ! Festival 2024
Mehr von XJAZZ Music auf die Ohren? Zum zehnjährigen Bestehen des XJAZZ-Festivals hat man sich in Kooperation mit der Analogue Foundation mit dem Doppelvinyl Entangled Grounds. The Sound of XJAZZ! Berlin ein Compilation-Album geschenkt, dass mit einer Momentaufnahme des gegenwärtigen Klanges der hauptstädtischen Jazzszene den Spirit dieses wohl urbansten aller Jazzfestivals festhält. Verteilt auf vier Plattenseiten präsentieren Künstler wie Moses Yoofee, Sera Kalo oder Petter Eldh unter Kuratierung von dem als Àbáse bekannten Produzenten Szabolcs „Szabi“ Bognár, Brewery Studios-Kopf Erik Brewer und dem derzeitigen Managing Director des XJAZZ-Festivals Sebastian Hecht auf zehn Tracks vormals ungehörte Sounds und Besetzungen, die nicht nur repräsentativ für den aktuellen Hauptstadtjazzsound, sondern gleichzeitig Hommage an die fluide Natur des Genres sind.
Anspieltipps: Das auf der Basis von behutsamem Modern Jazz zwischen Afro Beat und Nu Soul changierende „Still Waiting“ mit einer wunderbaren Zuza Jasinska an den Vocals, das avantgardistische Jazz Poetry Piece „Afeni“, und, falls man es eher funky liebt, Douniahs basslastiges „In The Middle of The Night“ – ganz zu schweigen vom mit über einer Viertelstunde Länge eine ganze Plattenseite füllenden Grand Finale „The Brewery Suite“, das neben tausend anderen Elementen aus asiatisch angehauchten Flötentönen, großorchestralen Symphonic Riffs und allerlei digitalem Getöse zusammengesetzt nichts Geringeres als angenehm überfordernd sein will – und auch ist. Auf die nächsten zehn Jahre, in die hoffentlich auch die Veröffentlichung (mindestens) eines weiteren Paul-Kleber-Albums fällt.
