Lieblingsmelodie im Plural
Richard Koch | Rays of Light
(Fun In The Church)
Diese Platte ist anders. Schon der Titel verrät es: Wo zuvor mit der Trilogie Wald (Contemplate, 2018), Stadt (Xjazz!, 2020) und Fluss (Xjazz!, 2022) die karge Ein-Wort-Expression dominierte, entfalten sich nun fast geschwätzig wirkende Rays of Light. Nicht zuletzt veröffentlicht Trompeter Richard Koch die Platte erstmals ausschließlich unter eigenem Namen, ohne weiteren Hinweis auf sein zum Quintett angewachsenes Quartett, das zudem mit völlig neuer Instrumentierung auf bislang ungehörte Klangfarben setzt. Doch dies, das sei an dieser Stelle bereits verraten, ist es nicht, was diese Platte im Koch’schen Kosmos so herausragen lässt.
Doch von vorn: Gleich zu Beginn ist Kochs vertrauter Trompetenklang zu vernehmen, zärtlich, lyrisch, mit einem Hauch hier noch gezügelter panesk-unschuldiger Freude an Musik, Tanz und Fröhlichkeit, während das begleitende Akkordeon bereits unmissverständlich die neue Marschrichtung anzeigt: Richard Kochs Ensemble ist gewachsen – und bis auf Bassist Andreas Lang voller neuer Gesichter. Mit Valentin Butt am Akkordeon, Fabiana Striffler an der Violine und Nora Thiele an den Frame Drums hat sich aber nicht nur die Besetzung, sondern auch das Klangspektrum entscheidend erweitert. „Space“ nennt Koch das erste Stück, doch von kosmischem Raunen keine Spur, eher von, will man denn im Bilde bleiben, celestialem Schweben, himmlischem Erhobensein, sakralem Glanz im Profanen, kurz: Wir haben es mit einer dieser glücksverheißenden Lieblingsmelodien zu tun, die bislang jedes Album des Trompeters getragen hat.
„Ringi“ schlägt einen anderen Ton an: Die bislang im Zaum gehaltene Tanzwut bricht sich hier schuhplattlerartig ihre Bahn. Der arglos-ländliche, nahezu folkloristische Ton des Auftakts bleibt trotz intensivierten Tempos erhalten, und während Koch zum wohlbekannten Dämpfer greift und Striffler in bester Tennessee-Manier shuffelt, was das Zeug hält, wächst sich das Ganze zum sentimental-rustikalen Vergnügen aus, das allen Beteiligten, die vor den Boxen eingeschlossen, unüberhörbar Spaß macht. Dann wechselt die Platte ins Moll und damit in den „Hach“-Modus: zum Heulen schön, dieses „Moon Dance“ – und gleichzeitig ein appetitanregender Vorgeschmack darauf, wie sich Kochs und Strifflers Melodien mal innig umschmeicheln, mal neckend umranken, als hätten wir es recht eigentlich mit einem Duo-Album zu tun. Eine Anmutung, die – genau wie die bis zur Schmerzgrenze getriebene süße Sehnsucht – die Rays of Light immer mal wieder durchdringen soll.

So auf „Big Blossom“, wo nicht nur erneut die Tanz-, ach was: die schiere Daseinsfreude durchbricht, sondern auch stets ein melancholischer Hauch jener Bittersüße mitschwingt, die einen beim Anblick der titelgebenden Blüten erfassen kann, wohnt diesen doch mitten im Erblühen stets schon die Ahnung ihres Vergehens inne. Und spätestens jetzt ergreift auch den Hörer vorfreudige Gewissheit, dass von diesem Album nicht nur eine einzige Lieblingsmelodie im Ohr zurückbleiben soll, sondern er es vielmehr mit einem ganzen Album voller Lieblingsmelodien zu tun hat, von Stück zu Stück, von Motiv zu Motiv, von Riff zu Riff, sollte es so etwas wie ein Trompetenriff überhaupt geben.

Damit das alles nicht zur reinen Überfülle gerät, gönnt sich die Platte mit einem kurzen experimentellen Intermezzo eine kleine Atempause, denn schließlich verhält es sich mit Lieblingsmelodien nicht viel anders als mit dem Lieblingsessen: Wenn man es jeden Tag hat, ist es irgendwann nichts Besonderes mehr. Ergo gibt’s mit „Constancy“ 1:46 Minuten zum Durchatmen, bevor sich das nächste Thema in den Kopf brennt. Dann aber! „Choo-Choo“ bezirzt mit einer vordergründig simplen Vier-mal-Vier-Ton-Abwärtsfolge (okay, der letzte Vierer ist eigentlich ein Fünfer, aber wir wollen doch nicht päpstlicher als der Papst sein!), die sich zu jener Endlosschleife auswachsen soll, die am Schluss der Platte noch wochenlang im Kopf bleibt, eröffnet von einem Akkordeon, das seine Verwandtschaft zum Bandoneon nicht verleugnen will und kann sowie sich in den Tastenteppich webenden, dezent-synkopischen Trommeltönen, getragen von einem Duett aus weinender Violine und seufzender Trompete. Groß!
Die beiden Melodieinstrumente duettieren, nein: duellieren sich auch im avantgardistischen „Flowing Up“, wo Striffler mit einem ihrer großen Momente der Platte überzeugt, schwebend und erdend zugleich, so emotionsüber-, nein, -umspannend ihr Ton hier den Bandklang zu Höhenflügen führt, der indessen eine weitere seiner unwiderstehlichen Melodien hervorbringt. Der folkloristische Hüpfer „Frank“ mit seinem alpin anmutendem Gestus stellt erstmals Andreas Langs Kontrabasstöne heraus, die dieses Album bislang eher so ruhig wie gesamtklanghütend zusammenhielten – und wirft einmal mehr ein Spotlight auf das Akkordeonspiel Valentin Butts, der hier zwischen der Geistesbruderschaft mit Mario Batkovic bzw. Kimmo Pohjonen und den beiden klassisch ausgebildeten osteuropäischen Akkordeonvirtuosen brilliert, die in den U-Bahn-Schächten von Berlins Mitte Vivaldis stürmischen Herbst 4-händig zum Besten geben, getoppt nur noch vom vertrauten Koch’schen WahWah-Signature-Sound.
Apropos Toppen: Das Finale (und auch der gleichzeitige Höhepunkt eines die Höhepunkte nur so aneinanderreihenden Albums?) schließlich wird von der verzauberten Ballade „Falling and Rising“ nach Hause gebracht, die noch einmal alles an warmkalter Melancholie auffährt, zu dem die Emotionsklaviatur fähig ist. Vom schwebenden Beginn über die von bandoneonhaften Akkordeon- und so behutsam wie absichtsvoll gesetzten Basstupfern umspielten Koch’schen Wehmutsklänge bis zum offenen Ende, wo diese Musik unhörbar unendlich genauso weiterfloatet wie in unseren Köpfen.

Glaubt man zunächst, diese Platte sei ob ihrer neuen Instrumentierung und den daraus entstehenden frischen Klangfarben so anders, merkt man schon bald: Der eigentliche Unterschied liegt nicht darin, dass Richard Koch uns wieder eine seiner soghaften Glücklichmacherklänge mit Ohrwurmgarantie schenkt, sondern darin, in welcher Fülle er es tut, haben wir es auf diesem Album doch nicht mit einer, sondern gleich einer Viel-, ja: fast schon Überzahl an Lieblingsmelodien zu tun!
In diesem Sinne nimmt Rays of Light seinen Titel ernst und brennt sich strahlenhell und tief in Gedächtnis ein. Gäbe es eine Art Sonnenschutzcreme für musikalische Strahlung – hier fände sie, und das meine ich im positivsten aller Sinne, Verwendung.
Rays of Light ist natürlich auch als Vinyl erhältlich, und das natürlich am besten beim Künstler selbst direkt über Bandcamp: https://richardkoch.bandcamp.com/album/rays-of-light-2
Video: Victoriah Szirmai
Fotos: David J. Hotz