Zu Besuch bei … be kind in Berlin. Ein Festivalbericht.
Königin für vier Tage.
Text: Victoriah Szirmai
Fotos: David J. Hotz
Slow music. Slow food. Slow. Mit diesem Claim lockt das be kind-Festival, das vom 13. bis 16. Oktober im – bislang lediglich für Kunst, etwa Lesungen moderner Poesie, jedoch nicht für Musik genutzten – alten Sudhaus der ehemaligen Berliner Kindl-Brauerei seine Premiere feiert. Dem mit Slow Living wohl recht passend zusammengefassten Gedanken der Entschleunigung unseres zunehmend komplexer werdenden Alltags bin ich als jemand, dem generell alles rasch zu laut, zu voll, zu schrill, zu grell, zu hell, zu schnell, zu warm oder zu kalt, kurz: zu viel wird, sowohl persönlich zur sinnlichen Entgiftung als auch beruflich durch beständiges Plädieren für einen langsamem Musikjournalismus überaus zugetan. Klar also, dass ich, wenn irgendwo „slow“ draufsteht, hin muss! Noch dazu, wo viele der Künstler:innen alte Bekannte sind und mit zwei bzw. am Abschlusstag drei Sets pro Abend einen Querschnitt des aktuellen Schaffens der Berliner Musikavantgarde zu präsentieren versprechen, genreoffen zwar, doch mit deutlichem Contemporary Jazz-Schwerpunkt.
Ermöglicht werden die vier Festivaltage vom spartenoffenen Fördertopf des Berliner Senats – und den beiden Kuratorinnen Laura Winkler und Winnie Brückner. Mit Winkler, charismatische Frontfrau des Folk-Soul-Sextetts Holler My Dear und bis Ende letzten Jahres Vorstandmitglied der IG Jazz, teilte ich mir zuletzt bei der Jazzwoche Berlin #3 die Bühne, als wir gemeinsam auf dem Streamboat Kultur- und Europasenator Klaus Lederer in Sachen Berliner Jazzförderung auf den Zahn fühlten. Brückner, studierte Jazzsängerin, Vocalcoachin und Komponistin, werde ich während des ersten Festivaltags noch als passionierte Apologetin Alter Musik näher kennenlernen. Doch erst einmal stehen wir auf dem ehemaligen Brauereigelände, das sich trickreich verborgen in Neuköllns Seitenstraßen schmiegt und zumindest von einer Seite aus nur über eine – nicht unbedingt auf den ersten Blick und schon gar nicht in Google Maps als solche erkennbare – Treppenfront erreichbar ist.
Wer das Ziel gefunden hat, wird belohnt mit einem überaus freundlichen Willkommen von Veranstalterinnen wie Security, die das Motto „be kind“ allesamt bis in die Haarspitzen verinnerlicht zu haben scheinen. Neben dem obligatorischen Stempel auf die Hand gibt’s auch einen Essengutschein, der in der Pause zwischen den beiden Sets beim hauseigenen Café Babette eingelöst werden kann. Und dann steht man auch schon in der kathedralenartigen Dreißigerjahre-Halle inmitten stillgelegter, kupferglänzender Sudkessel, die sich von grauen Sitzsäcken und Kissenlandschaften umrundet finden. Es herrscht das Prinzip der freien Platzwahl, eine Bühne im engeren Sinne gibt es nicht, die Musiker:innen spielen auf Augenhöhe mit dem Publikum.

So auch Cellistin Susanne Paul, die nach einer kurzen Begrüßung durch die Festivalleitung ganz unprätentiös auf einem Stuhl direkt neben uns Platz nimmt, um ein poetisches Solo-Cello-Set zu bestreiten. Schon hier beeindruckt die unglaubliche Akustik der Halle, von der es keine rhetorische Übertreibung ist zu sagen, man könne jede Stecknadel fallen hören. Das Publikum verhält sich entsprechend still, lauscht und ruht. Paul gibt mit allerlei innovativen Spieltechniken, die das Cello mal zur Laute, mal zum Kontrabass werden lassen, Eigenes wie „Verortung“, „Ankommen“ oder „Dschinn“ zum Besten, aber auch Interpretationen von Evergreens, darunter Coltranes „Giant Steps“ und Dylans „Don’t Think Twice“.
Schon jetzt steht fest: be kind lässt das, was man sich insgeheim schon immer gewünscht hat, wahr werden. Musikhören in intimer Schlafsaalatmosphäre, im privaten, aufgeräumten, wohltemperierten Boudoir, wo einen nichts, aber auch gar nichts an die nicht erledigten Tagesaufgaben erinnert. Man lehnt sich genießerisch in die komfortablen Kissen, während dieses weiche, warme Instrument nur für einen ganz allein Coltranes „Naima“ und Monks „Well, You Needn’t“ spielt. Ist nicht genau das die Definition von purem Luxus?

Noch während man diesem Gedanken nachhängt, verwandelt sich Pauls Cello in ein Harmonieinstrument, um sich in Flamencoartigem und Septimenreichem zu ergehen, abgelöst von etwas Meditativ-Semisakralem, das das Zeug zur Bach’schen Cellosuite hätte, wäre der Thüringer 300 Jahre später geboren. Auch Susanne Pauls Pizzicato – ein unzureichender Ausdruck für das, was sie mit den Fingern auf den Saiten macht – erinnert eher an die Art, wie ein Fingerstyle-Gitarrist sein Instrument bearbeitet, als an eine klassische Cellistin, die auf der überraschenden Zugabe „Schöner Gigolo, armer Gigolo“, das wiederum eher an Cassandra Wilsons „In My Kitchen“ gemahnt denn an den populären Schlager, einmal mehr die Jazzkontrabassistin gibt. Noch ganz benommen von Arrangements, Fingerakrobatik und Echo-Effekten, kurz: dem gelungenen Festivalauftakt, rappelt man sich aus den Kissen, denn jetzt gibt‘s: Essen.
Hier stellt sich heraus, dass das Festival auch freundlich zu Tieren ist: Nicht nur ist der eine oder andere wohlerzogene Hund gerngesehener Gast, auch das Menü gibt sich konsequent vegan. Auf uns wartet ein Kürbis-Erdnuss-Curry mit Tofu, Reis und Tahinsauce, gezaubert von Köchin Hannah, die über die kommenden Tage zum Publikumsliebling und damit heimlichen Star des Festivals avanciert. Auch die beiden Rotweine der Bar vom Café Babette, ein Portada und ein Bordeaux, sind wie gemacht für den Anlass: weich, schmeichelnd, kurz: freundlich, aber doch mit diesem gewissen Etwas, das davor bewahrt, allzu gefällig oder gar langweilig zu sein, wobei der Portugiese weitaus mehr – wohltuende – Kante zeigt als der Franzose.

Und dann geht es auch schon mit Set Nummer zwei weiter. Hier trifft das Vokalensemble Vox Nostra in Triobesetzung, darunter be kind-Kuratorin Brückner am Sopran, mit seinen über eintausend Jahre alten gregorianischen Gesängen auf das frei improvisierte Saxophonspiel Uli Kempendorffs, das HiFi-IFAs-Lesern zuletzt mit dem Quartett FIELD durch die Boxen gekrochen ist. Geht nicht? Geht gut!
Das durchgehende, ohne Zwischenapplaus unterbrochene Konzert beginnt mit dem Trio, das man zunächst lediglich hören, aber nicht sehen kann. Erst allmählich schreitet es von der Empore am Ende des Saals die Treppe hinunter, womit noch einmal die – insbesondere für Unverstärktes und Vokales – unglaubliche Akustik des Saals betont wird. Beim zweiten Stück wird eine indische Shruti Box ausgepackt, die als eine Art Kofferbordun fungiert und vorbereitet auf Kempendorffs sich behutsam, unter viel Lufthauch und reichlich Ventilgeklapper hinzugesellendes Saxophon, das im Zwiegesang mit den Stimmen beängstigend menschlich rüberkommt, bevor es sich auf der Empore verliert, derweil das Trio inmitten der Halle seine neue Position bezieht.
Das Spiel mit Nähe und Distanz, Raumklang, Echo und Hall setzt ein improvisiertes Duo von Kempendorff und Brückner – die auf einmal so gar nichts mittelalterliches mehr an sich hat – fort, das irgendwo zwischen Melismatisch-Orientalisierendem und Freejazz sein musikalisches zu Hause findet, bevor sich die Musiker:innen einmal mehr neu positionieren und das Set anfängt, einem Wandelkonzert zu ähneln – nur, dass hier nicht das Publikum von Band zu Band wandert, sondern die Musizierenden sich fortlaufend neu im Raum verteilen, aufeinander zugehen und wieder auseinanderstieben, sich gruppieren und erneut vereinzeln, um sich mal anzusingen bzw. -spielen und mal für spannende, nachgerade quadrophonische Effekte einander abermals zu entgleiten.

Zwischendurch gerät das beständige Bordun enervierend poly-, um nicht zu sagen: kakophon, derweil sich Kempendorffs Saxophon an einem hummelfluggleichen Tongestöber erfreut. Während der Jazzer strikt improvisiert, liest das Trio seinen Part von Blatt ab, konsequent in alter Notation, genauer: wechselweise Hufnagel und Neumen. Brückner ist sich sicher: „Das singt sich einfach anders, als wenn man es ins moderne Notensystem mit Taktstrichen übertrüge!“ Und ja, es klingt auch anders. Noch ein röst- und karamellaromenreiches Rollberg Rot, das gleich nebenan von einer kleinen Privatbrauerei hergestellt wird, und wir treten beseelt den Heimweg durchs nächtliche Neukölln an.
Es ist Tag zwei. Wer üblicherweise spät arbeitet, spürt, dass ihn das Festival jeweils einen halben Arbeitstag kostet. Mentale Notiz fürs nächste Jahr: vier Tage Urlaub nehmen – oder auch nur zwei, denn be kind läuft von Donnerstag bis Sonntag und damit analog zu klassischen Vier-Tage-Festivals bzw. Messen im Jazzbereich, etwa der jazzahead! oder dem Jazzfest Berlin, über das an dieser Stelle in Kürze auch noch zu lesen sein wird. Doch zurück zu be kind. Mittlerweile erkennt man das eine oder andere vom ersten Festivaltag vertraute Gesicht – eine feste Sitzordnung hat sich indessen noch nicht ergeben. Auch wir platzieren unseren Sitzsack heute an einem anderen Sudkessel und freuen uns auf das Live Electronics Solo von Korhan Erel, mit dem*der ich mir vor Urzeiten einmal das Podium beim Darmstädter Jazzforum teilte, wo er*sie jede meiner Thesen, mit der er*sie nicht einverstanden war (und das waren einige!) mit einem wahren Klanggewitter konterkarierte.
Ein solches wird uns heute auch noch erwarten; erst einmal aber loten Erels Sounds mit einem Stück, das passenderweise „Kind“ heißt, vorsichtig den Raumklang aus. Da gibt es Spoken Word Snippets, die sich in Form verfremdeter Sprache mit dystopischen Electronica vereinen, die „Gebrizzel“ zu nennen grob verniedlichend wäre, denn hier tropft es, faucht, dröhnt, hallt und ziept; es quietscht und sirent zunehmend nervös, ja: unaufhaltsam, und wenn es dann doch einmal innehält, ist das lediglich die – maximal bedrohliche – Stille vor dem Sturm. Dank mehrerer über den Saal verteilte Lautsprecher, deren dramaturgisch-dynamische Positionierung ihren eigenen Teil der Geschichte erzählt, wabert es mal hier hinten, donnert es mal dort drüben, sodass man kaum weiß, wohin man die Ohren wenden soll.

Und so lassen sich viele einfach auch nur zurück in die Kissen sinken, um dieses düstre und, wenn man das von einer Sprach-Geräusch-Collage, bei der Eisen auf Eisen reibt und Bad News das Bordun bilden, überhaupt sagen kann, mollgetönte Klangwerk zu goutieren, wo Hubschrauber flappen, Motoren stottern, Sprachfetzen wie vom orwell’schen Teleschirm aus dem Off befehligen und Statements wie „Most. People. Can’t. Be. Trusted.“ cassandran. Später ertönt ein Schluchzen, das auch ein abgehacktes Lachen sein könnte, bis sanft angeschlagene, schier endlos nachhallende Saitensounds den Albtraum in einen leichten Dämmerschlaf überführen, der nur noch ab und an heimgesucht wird von den nächtlichen Dämonen, indessen aber nicht minder – eher noch: mehr – surreal anmutet als das zuvor gehörte Endzeitszenario, eignet der Atmosphäre doch jetzt etwas von einer hermetisch abgeriegelten Welt-in-der-Welt, wie in einem Bunker oder auf einer Raumstation, wo normales Leben imitiert wird, ohne normales Leben zu sein. Mit einer Art Streichercoda werden wir noch einmal zurückgeleitet in die dystopischen Soundwelten, die, derart metamorphosiert, allen verstimmten Fauchens zum Trotze jetzt nachgerade geläutert erscheinen. Zwischen gigantischen Sudkesseln liegen wir in einer Klanginstallation – und es ist herrlich.

Einmal mehr selig-benommen gehen wir zum Essen, das mit Gerichten wie Szegediner (Soja-)Gulasch mit Sour Cream und Sauerteigbrot nichts missen lässt, was des Fleischessers Herz, Magen und Geschmacksnerv begehrt, und damit angetan sein dürfte, den einen oder anderen zur veganen Küche zu bekehren. Und dann kommt auch schon ein ganz besonderes Duo. Pianistin und Komponistin Ulrike Haage – wie Katharina Franck Ex-Rainbirds-Mitglied, jedoch mittlerweile mit ihrer experimentellen, preisgekrönten Hörspielkunst in einem völlig anderen musikalischen Kosmos unterwegs – nimmt hinter dem eigens herbeigeschafften Flügel Platz. Die erste Frau, die den Deutschen Jazzpreis erhielt, tastet sich mit Stücken ihres aktuellen Albums Himmelsbaum (Blue Pearls, 2020) meditationsgleich an das heran, was die Festivalmacherinnen als eine „kontemplative und sehr feine Musik“ angekündigt haben, in der sich Kaskadierendes mit einem Motiv vereint, das einem bereits mit dem zweiten Durchlauf so seltsam vertraut ist wie ein anheimelndes Echo aus der Kindheit; und während man sich, angenehm satt und nicht minder angenehm in weiche Kissen gebettet, seinen persönlichen Reminiszenzen hingibt beziehungsweise in Tagträume abdriftet und einmal mehr, ein entspannendes Getränk in der Hand, die Wahnsinnsakustik des Saals auf sich wirken lässt, stellt sich wieder das Gefühl ein, das bereits am Vortag präsent war: Wow, die spielt nur für mich!
So müssen sich Könige gefühlt haben, wenn ihnen im Schlafgemach das hofeigene Streichquartett zur Nachtruhe aufspielte. Mit dem Schlaf indessen wird das hier so schnell nichts, denn Haage kann nicht nur dem fragilen Melodietupfer nachspüren, sondern auch in rachmaninow’schen Tiefen gründeln, bis der Bechstein wackelt. Auch hier hebt der Widerhall des nunmehr gänzlich vertrauten Themas, wenngleich verfremdet von allerlei unbequemem Intervall, sacht sein Haupt, und man kann nicht umhin festzustellen, dass die Kuratorinnen gegenüber vielen Berufsgenoss:innen nicht nur den Vorteil haben, als Musikerinnen selbst über ein exzellentes Gehör zu verfügen, sondern auch mit einem ebensolchen Geschmack gesegnet zu sein, den sie, anstatt ihn eifersüchtig für sich selbst zu hüten, freigiebig mit anderen teilen. Nämlich mit uns.

Haage unterdessen hat sich darauf verlegt, dem Flügel in die Saiten zu fassen, was ein mittelalterlich-barockes Zaubergeräusch produziert und so zur unwirklichen Atmosphäre dieser Traumreise beiträgt, die man eigentlich nicht vom Akkordeon unterbrochen hören möchte, doch Susanne Stock, an und für sich zu Hause in der Neuen Musik, gesellt sich derart behutsam hinzu, wie man es ihrem doch eher rustikalen Instrument nicht zugetraut hätte: Mit ihrem Akkordeon setzt sie die klangschaftlichen Täler, über denen Haages Berge bis in die Wolken ragen können. Dann wieder erklingt das Handzuginstrument sakral wie eine Kirchenorgel, von Haage irrlichtern umtänzelt, bis man gemeinsam in einen pointierten Tangorhythmus verfällt. Es ist ein einziges Erblühen und Verwelken und Neuerblühen, in dem immer wieder das Thema der Kindheit aufscheint, auch, wenn dieses Idyll nicht gänzlich ungetrübt ist. Je mehr das ehemalige Kind in seinem Leben schon durchstanden, je weiter es sich aus dem Paradies kindheitlicher Geborgenheit entfernt hat, desto stärker wird seine Sehnsucht nach diesem einen heilen, ja: heilenden Ort, dem wir noch vor der Zugabe in Stocks Solostück so nahe kommen wie sonst nie. Würde die Kirchenorgel, immerhin „Königin der Instrumente“, so klingen wie hier das Akkordeon unter Stocks Fingern: die Menschen würden die Messe wieder öfter besuchen – und Gott näher wären sie auch.

Tag drei. Der Weg zum Festival fühlt sich nach Arbeitsweg an, die Oberschenkelmuskeln sind vom vielen Treppensteigen gekräftigt. Mittlerweile weiß der geübte be kind-Gänger ganz genau, an welcher Stelle er aus dem U-Bahn-Schacht aufsteigen muss, um zur relevanten Querstraße zu gelangen, wo der kürzeste Weg durch das verschlungene Gelände mit Gemeinschaftsgarten, alternativem Kiosk und Kartbahn entlangführt und wieviel er am Nachmittag kochen und vor allem essen muss, um nach dem Festivalabendbrot weder hungrig noch überfüttert zurückzubleiben. Obwohl es heute merklich voller ist als an den vergangenen Tagen, hat sich mittlerweile so etwas wie eine Sitzordnung herausgebildet – auch wir landen wieder auf unserem seit gestern (und für den Rest des Festivals) angestammten Kissen direkt gegenüber des Flügels. Der spielt jetzt aber erstmal keine Rolle, denn vor der Treppe ist eine riesige, um nicht zu sagen: raumfüllende Marimba aufgebaut, die auf die japanische Jazz- und Improvisationskünstlerin Taiko Saitō wartet. Diese kreiert zunächst eine sich langsam entwickelnde, mal hölzern, mal metallisch erscheinende Klangwolke, der so überhaupt nichts Pseudoasiatisches eignet, das in Wellnesstempeln gern als meditative Soundtapete vor sich hin dudelt und im Allgemeinen mit japanischen Klängen assoziiert wird. Im Gegenteil: Saitō vereint die traditionellen Klänge ihrer Heimat mit lateinamerikanischen Grooves, bei denen es so kraftvoll wie urgewaltig zur Sache geht, um dann plötzlich wieder ganz sanft und leise zu tönen. Je mehr man sich in diese Klänge hineinsinken lässt, desto mehr evozieren sie die Märchenkassetten der Kindheit, eignet ihnen doch etwas ganz und gar Verwunschenes, das – vielleicht – jetzt schon als eine Essenz von be kind festgestellt werden kann und – ganz bestimmt – zum Träumen einlädt.

Kaum hat man die Augen geschlossen, weckt einen Saitō mit sinfoniemitdempaukenschlaggleichen Getöse, damit es nicht allzu angenehm zu werden droht, sodass ihr Set mit seinem beständigen Schwanken zwischen Kaumnochwahrnehmbarem und Ambosdonner vor allem eins bleibt: spannend. Nicht ganz so eingelullt wie in den letzten beiden Tagen, wo man immer erstmal das Gefühl hatte, eine Art Klangschleier von sich schütteln zu müssen, um wieder am normalen Leben – ergo: Essen – teilnehmen zu können, stellt man sich in die Schlange der Menüausgabe, wo heute vegane Wraps mit buntem Herbstgemüse, Sojaschnetzeln, Salat, BBQ-Tahinsauce und Sriracha-Mayo auf den hungrigen Festivalgast warten.

Gewartet hat die Menge auch auf Sanni Loetzsch aka Kid Be Kid, ihres Zeichens Simultan-Beatboxerin, NuSoul-Sängerin, Pianistin und Elektronikerin, oder, wie sie selbst lachend erklärt, Ein-Frau-Kapelle. Die beginnt ihr Set mit einer Extended Version von „Home“ aus ihrem Debütalbum Sold Out (Springstoff, 2017), das hier nicht nur mit der dauerrepetierten Zeile No one wants to be alone auffällt, sondern auch einem eigens dem Raum angepassten Arrangement, bevor sie Stücke ihrer jüngsten EP Lovely Genders (Springstoff, 2020) – inklusive der wie von einem heiseren Engel vorgetragenen Schlüsselzeile We are all beautiful – spielt und endlich auch anhebt zu beatboxen, worauf der ganze Saal gewartet hat und komplett aus dem Häuschen respektive Sälchen gerät. Zu Recht, denn es folgt nicht nur die eigens fürs Festival geschriebene Uraufführung eines Stücks im – für Kid be Kid extrem untypischen – klassischen Songwriterformat, sondern auch eines, wo Neo-Soul-Chanteuse Jill Scott auf ein Spinett zu treffen scheint, bevor man sich zur fulminanten Acid House-Party vereint, die das gesangtalentierte Publikum aus seinen Sitzsäcken reißt und, wo es schon mal steht, den Chor geben lässt, der die Raumakustik an ihre Grenzen und den Menschen einen überbordenden Freudetaumel bringt, der an die Unterzeile der quincyjones‘schen Interpretation von Händels Messiah erinnert: A soulful celebration. Wieder einmal geht man mit übervoller Seele nach Hause.

Wir schreiben Tag vier. Man kennt sich, grüßt sich, erklärt den Neulingen, wie be kind funktioniert und gibt sich an der Bar Getränkeempfehlungen. So auch der zufällig ins Festival hineingeratenen Dame, die sich freut, dass man hier frischen Ingwertee bekommt – der zur Stärkung auch dringend nötig ist, denn heute warten statt der gewohnten zwei gleich drei Konzerte auf uns. Das erste wird ganz allein von dem modulationsstarken Organ der Experimentalvokalistin Almut Kühne bestritten, die barfuß auf dem – sicherlich kalten – Marmorboden hinter einen Sudkessel hervor und dann quer durch den Saal wandelt, wo sie ihre Töne derart gestenreich untermalt, dass man so manches Mal das Gefühl hat, sie risse sie sich direkt aus dem Hals. Mehr noch: Es ist eine ganze Perlenkette von Tönen, die langsam ans Tageslicht gezogen wird, darunter sowohl die eine oder andere edle, grauschimmernde Südseeperle, wie auch das an seiner Schweißnaht zu erkennende, billige Plastikimitat aus Fernost, gleichberechtigt nebeneinander gefädelt, denn Kühne ist es nicht um den Schönklang zu tun, sondern um das gesamte Ausdrucksspektrum der menschlichen Stimme.

Auch ein verirrter Handyklingelton – der erste und letzte des Festivals übrigens – wird mit dem Kommentar „busy people“ halb-singend, halb-sprechend in die Performance integriert, die sich um die Anforderungen an Aussehen und Benehmen der Frau in der heutigen Zeit dreht sowie den sozialen Zwang zum Glücklichsein. Almut Kühnes stets leicht atemlos vorgetragene Geschichten kulminieren in der Suche nach einer gewissen „Angie“, zugespitzt in einem an der Grenze zum Unhörbaren kratzenden Geräusch, das verstärkt werden muss, um auch nur eine Ahnung von ihm zu bekommen, wo es sich dann als Klang zwischen Radiosendersuchgeräusch und Meeresrauschen entpuppt, der im erstickten Ruf nach der nun nicht mehr gekosten „Angela“ gipfelt. Die soll sich, als sie sich zögerlich hinter ihrem Kessel hervorschält, als unsere Barbekanntschaft mit dem Ingwertee herausstellen. Was weder wir noch die Festivalmacherinnen wussten: Es handelt sich um Schauspielerin Angela Winkler, die Mitte der Siebziger dank ihrer Titelrolle in Die verlorene Ehre der Katharina Blum von Volker Schlöndorff und Margarethe von Trotta zum Star avancierte. Nachdem Kühne sie vor dem überraschten Saal zum Duett bittet, gibt Winkler so leise wie bescheiden zunächst ihre Tageseindrücke wieder, um, umhechelt von Kühne, in eine volksballadeske, symbolbeladene Ode an den Pflaumenbaum inklusive den ehemaligen Geliebten zu sinken, bis sich die beiden Künstlerinnen an den Händen fassen und in glucksendes, unglaublich ansteckendes Gelächter ausbrechen, bevor sich Kühne während der Zugabe die zu Beginn hervorgezogenen Töne wieder zurück in den Mund schiebt. Schön war das!

Die letzte Essenspause des Festivals steht an, Köchin Hannah hat Chili con Soja mit Sour Cream und Nachos gemacht. Lecker – und direkt gefolgt vom als „Stimme und Bass in Soundschleifen“ angekündigten Set von Vokalistin Cansu Tanrıkulu und Bassist Nick Dunston, die – ist das Festival doch für Soundliebhaber:innen konzipiert – teils verstärkt, teils akustisch im und mit dem Raum spielen werden. Ein wilder Auftakt von mit Bogen bearbeitetem (denn „gestrichenem“ wäre hier schlicht deplatziert) Kontrabass weist die experimentelle Marschrichtung, lockrufartig erwidert von einem Pfeifen am anderen Saalende: Tanrıkulu hat die Szenerie betreten, was Dunston den Bogen beiseitelegen und sie zupfend begleiten lässt, ohne sich dabei zum Begleiter zu degradieren.
Aus den Lautsprechern klagt, wimmert und seufzt elektronisches Gelöt, sind die beiden doch mittlerweile bei ihrer jeweils eigenen Effekte-Spielecke angekommen, die von Zeit zu Zeit wieder verlassen wird, um auf Wanderschaft zu gehen, Dunston mit einem Effektgerät von der Größe einer Zigarettenschachtel in der Hand, Tanrıkulu mit nothing but her voice, um immer wieder an der Basisstation anzudocken, die geduldig ihrer Benutzung harrt. So auch ein von Dunston gerührtes, präpariertes Banjo, das sich im Zwiegestöhn mit Tanrıkulus gehecheltem Stakkatogeflüster in etwas ergeht, das eher Geräusch denn Musik zu nennen ist, dabei aber mit seinem zwingenden Groove mitreißt, der zum Strudel gerät, schneller und schneller und tiefer und tiefer, um in einen perkussiven Derwischtanz zu münden, noch schneller, noch wilder, ohne Entkommen, sich aber vor dem endgültigen Umfallen auflöst im Klang des verstimmten Banjos und einem Jodeln, das mit einem fröhlichen Gluckser endet. Wir sind, zugegebenermaßen, alle leicht überfordert – so viele akustische Eindrücke wollen erst einmal verarbeitet werden! Doch wir harren gespannt weiter aus.

Und hätten wir das nicht getan, hätten wir etwas verpasst, nicht nur musikalisch, sondern auch emotional, denn die schlauen Kuratorinnen haben ihr Festival auch dramaturgisch geschickt programmiert. Im Gegensatz zur eben verklungenen, aus und in dem Moment entstehenden Echtzeitmusik des Duos Dunston & Tanrıkulu wird nun Barockes angekündigt, das mit Harfe und Darmsaiten ein letztes Mal hörbar macht, was akustisch in diesem Raum steckt. Nach einer kurzen Umbaupause rückt man dicht zusammen, das Setting erinnert mittlerweile an eine Mischung zwischen Pyjamaparty und Bed-in, alles liegt flach und chillt, derweil träumerische Pausenmusik erklingt, die sich bald schon als Introlude zum von Musiche Spostate bestrittenen dritten und letzten Set des Festivals erweisen soll – verschmelzen die Electronics doch bald schon nahtlos mit den Klängen der Schalenhalslaute, die die Prozession des mit Luise Enzian an der Harfe, Thor-Harald Johnsen an Theorbe und Gitarren sowie Thomas Koch am Bass besetzten Trios zu seinen Plätzen anführt.
Als alle drei Platz genommen haben und sich ihren jeweiligen Instrumenten widmen, kommt mir unwillkürlich das englische Verb „to serenade“ in den Kopf, das so gar keine deutsche Entsprechung haben will, aber bedeutet, dass uns ein Schlafliederreigen gespielt wird, der das genießerische Gefühl endgültig besiegelt, zu einer Zeit, als die Kontrabässe noch Gamben waren, königliche Hoheit zu sein mit dem Privileg, eine Privatkapelle ins Schlafgemach befehligen zu können, auf dass sie einen in den Schlaf spiele.

Spätestens, wenn sich die Traumelektronik aus dem Boxen mit einem Harfensolo verwebt, bin ich, obgleich üblicherweise kein Freund atmosphärischer Sphärenmusik, nach vier wundervollen, aber durchaus auch fordernden Tagen komplett herunter- und bei mir angekommen. Und selbst, wenn jede:r Einzelne in unserem gemeinschaftlichen Dormitorium ihren*seinen Träumen nachzuhängen scheint, ohne auch nur im Entferntesten an gestern, an morgen, an die Umsätze oder das Frühaufstehenmüssen zu denken, muss einmal ausdrücklich festgehalten werden, dass das hier nicht nur hochgradig funktionelle Musik ist, sondern einen Wert an sich hat.
Be kind ist es gelungen, ein Festival aus der Taufe zu heben, das ambitioniert, aber nicht überprogrammiert ist. Ehrlich, bodenständig, minimalistisch fast, dabei aber immer auch magisch, poetisch und ein bisschen weltenfern. Sosehr ich für Journalisten das Konzept des Walk-in/Walk-out-Festivals schätze, das zeitgleich Haupt- und mehrere Nebenbühnen bespielt und solcherart überall kurz hineinschnuppern und einen Eindruck bekommen lässt davon, was aktuell so geboten wird – Konzertgenuss, der dem Puls des Menschen entspricht, sieht anders aus. Nämlich slow.

Der Fotograf: David J. Hotz, Homepage: http://djhotz.com