Zu Besuch bei … der jazzahead! in Bremen
Wieder zusammen.
Victoriah Szirmai
„After two years of uncertainty, postponance and heartbreak: we are here”, freut sich seine Exzellenz, der honorable kanadische Botschafter Stéphane Dion, beim Empfang des 2022er-Partnerlandes am 28. April 2022, der traditionellerweise am späten Donnerstagnachmittag bei landestypischen Speisen und Getränken die jazzahead! eröffnet. Tatsächlich sollte Kanada schon 2020, wenn man, wie beim Eurovision Song Contest, gewillt ist, Israel Europa zuzuschlagen, das erste nicht-europäische Partnerland der diesjahr unter dem Motto „Together again“ stehenden jazzahead! werden – der in Bremen stattfindenden, größten internationalen Fachmesse für Jazz mit angeschlossenem Showcase-Festival, das mittlerweile auch einem Nicht-Fachpublikum geöffnet ist.
Pandemiebedingt wurde die Messe vor zwei Jahren jedoch ersatzlos gestrichen, derweil man 2021 – als trotz des nähestiftenden Mottos „Close together from afar“ vor den Bildschirmen keine wirkliche Vernetzung aufkommen wollte – mit einer abgespeckten Online-Version an den Start ging, wobei ich die in einem Journalistenleben wohl einmalige Gelegenheit hatte, diese Produktion live vor Ort zu begleiten, während die schöne Hansestadt im strengen Komplettlockdown war. „Allein für dieses dystopische Erlebnis“, hielt ich letztes Jahr dazu fest, „hat sich die Reise gelohnt“.
Nun trifft sich die Jazzfamilie tatsächlich wieder live. Das ist erst einmal seltsam, dann euphorisierend und ja, nicht zuletzt auch irgendwie befreiend. Bremen hat kurz zuvor seine Hygienemaßnahmen zum Großteil fallengelassen; und auch die Messe hat – aufgrund der „entspannteren pandemischen Lage“ – auf 3G umgestellt. Nicht alle fühlen sich damit wohl. Auch für mich als jemand, der sich bislang erst einmal maskenlos in den Supermarkt gewagt hat und dabei ein mehr als komisches Gefühl hatte, ist die neue Freiheit gewöhnungsbedürftig, erst recht mit Blick auf die Inzidenzen. Natürlich dürfen freiwillig FFPs getragen werden, allein, nur wenige tun das im Messegewimmel auch. Man ist es gar nicht mehr gewohnt, Menschen so nah zu sein, mit ihnen zu reden, zu essen, Musik zu hören. Aber nicht nur deshalb fühlt sich bei dieser Messe, die doch seit mittlerweile sechzehn Jahren ihren festen Platz in den appointment books der weltweiten Jazzszene hat, vieles anders an.
Die Hauptumgewöhnung betrifft die Location. So werden zum einen neue Hallen bespielt, sowohl, was das Messegeschehen selbst, als auch, was die Showcases anbelangt. Manche Wege sind dadurch komfortabler geworden, andere weiter. Wer die Messe Bremen kennt, weiß, wovon ich spreche, denn diese Hallen sind ein gewaltiges Stahl-Ufo mit schier endlosen Gängen. Allein Halle 1, besser bekannt als ÖVB-Arena, fasst bis zu 14.000 Menschen!
Neu ist auch die Terminplanung. Auch, wenn die jazzahead! wie jedes Jahr von Donnerstagnachmittag bis Sonntagvormittag stattfindet, sind diesmal viele schon zum Mittwochabend angereist, denn praktischerweise wurde der letztes Jahr neu ins Leben gerufene Deutsche Jazzpreis am 27. April 2022 im Bremer Metropol Theater verliehen, während die erste Verleihung im Juni 2021 noch dezentral aus Hamburg, Berlin, München und Mannheim livegestreamt wurde. Ich verfolge auch die diesjährige Verleihung per Stream und möchte Ihnen, falls Sie sie nicht kennen, dringend die Harfenistin Brandee Younger an Herz und Ohren legen, die dort zu hören war. Klar jedenfalls, dass eines der großen Gesprächsthemen am Donnerstag dann auch der Preis ist, vor allem, wo zahlreiche Preisträger*innen und Jurymitglieder vor Ort sind.
Und so reise ich am Donnerstag an – pünktlich zur eingangs erwähnten Partner Country Reception, die in einem erstmals vor der Messe aufgebauten Zirkuszelt stattfindet – und zwar nicht nur mit warmen Worten, sondern auch mit Marinierten Ravioli mit Trüffeln, Kirschtomaten, Pfifferlingen, Rucola und Parmesan (vegetarisch) und Süßkartoffeln mit Ahornsirup, Ingwer, Pastrami und BBQ-Crunch (fleischig). Es gibt auch noch etwas Veganes mit Ingwer und Karotte, aber das ist schneller weg, als man gucken kann – die Jazzszene liebt’s vegan. Dann ist da noch der wirklich phantastische ungava-Gin aus Québec und ein in der gleichen Stadt gebrautes, eher gewöhnungsbedürftiges Hibiscus Craft Beer. Nach einem trotz all der Häppchen eingelegten Essensstop am Hauptbahnhof, der sich in all den Jahren als verlässliche Versorgungsquelle erwiesen hat (diesjahr allerdings enttäuscht, denn meinem Stamm-Asiaten ist prompt der Tofu ausgegangen. „Es waren heute so viele da, die Veganes wollten!“, wundert sich die Imbissverkäuferin, und spätestens da weißt du, dass die Jazzszene in Bremen angekommen ist), gibt’s das, wofür ich eigentlich hierhergekommen bim: Musik.
Die Konzertreihe der Canadian Night – François Bourassa Quartett, Itmar Erez Quartet, Marianne Trudel & John Hollenbeck, Kim Zombik & Nicolas Caloia, Audrey Ochoa, Steph Richards, Carrier/Lambert/Edwards – wird im Schlachthof abgerundet von einem Fusion Set des Snarky Puppy-Drummers Larnell Lewis, der nicht nur alles spielen kann, sondern auch einen sehr, sehr lustigen YouTube-Kanal unterhält. Unvergesslich etwa, als er zum allerersten Mal Metallicas „Enter Sandman“ hört und dann die Drums übernimmt! Doch zurück in den Bremer Schlachthof: Hinter mir sitzen zwei Herren, die Messegast Erik Leuthäuser – seines Zeichens sensibler Jazzcrooner und Queer Activist – als „the cis male heterosexual species in their natural jazz habitat“ beschreiben würde. Einer zum anderen: „Weißt du, ich rieche die Menschen wieder!“, womit er das Gefühl auf den Punkt bringt, das den ergreift, der endlich wieder Live-Musik erleben darf. Es mag nicht immer die reine Freude sein, die Menschen zu riechen – aber es ist echt. Live. Drei-D. Leben, halt.
Wie anders sich das zum im Vergleich zum letzten Jahr anfühlt! Obwohl ich auch dort bei den Konzerten dabei war – mit drei Journalisten, zwei Leuten von der Messe, einer Kamerafrau, zwei Kameramännern, einem Licht- und einem Tontechniker zu zehnt in der riesigen Halle. Plus Quartett auf der Bühne. Dessen Mastermind, dem Drummer und frischgebackenen Jazzpreisträger („Arrangement des Jahres“) Tilo Weber, laufe ich prompt beim Freitagsfrühstück in die Arme, gemeinsam erinnern wir uns an unsere Erlebnisse auf der letztjährigen jazzahead!, die wir nur „Geistermesse“ nennen.
Natürlich hat sich die Branche von den zwei Pandemiejahren nicht erholt. Es sind gefühlt halb so viele Aussteller angereist wie im letzten regulären Messejahr 2019: Damals 3.408 Fachteilnehmern aus 64 Nationen stehen diesmal 2.700 Teilnehmer aus 44 Ländern gegenüber. Gestandene Unternehmen, die bislang immer einen Messestand betrieben – darunter meine journalistische Heimat, das Münsteraner Jazzthetik Magazin, aber auch Plattenfirmen wie das Berliner Label Traumton Records – verzichten diesjahr aufgrund bis zuletzt bestehender Planungsunsicherheiten ganz auf einen Auftritt oder finden Unterschlupf in einem Gemeinschaftsstand. Es ist übersichtlicher geworden.
Umso schöner, wenn man – nicht nur optisch – Bemerkenswertem begegnet: etwa dem mit Wohnzimmer- wie Campingatmosphäre lockenden Musikland Niedersachsen, den schafsliebenden Dänen von Giant Sheep Music, den mit einem erlegten Büffel (oder zumindest dessen Fell) werbenden Belgiern oder der Schweizer Ländervertretung, die es sich auf die Fahnen geschrieben hat, das Publikum jenseits der Landesgrenzen für eine Genreschöpfung namens New Alpine zu begeistern. Das gelingt mit tatkräftiger Hilfe vorzüglichen Westschweizer Weins – einem 2020 Obrist „Les Egralets“ Dézaley Grand Cru A.O.C.
Ohnehin verdurstet man auf dieser Messe nicht. Die Ungarn von Kodály Spicy Jazz etwa haben, neben der Kodály’schen Volksliedsammlung en jazz, eine Chardonnay-Rhein Riesling-Cuvée aus Velence (nur echt mit trompetespielendem Maulwurf auf dem Etikett) an Bord. Außerdem sind ihre Landsleute im Large Ensemble angereist und spielen als Modern Art Orchestra den zweiten berühmten Volksliedsammler ihrer Heimat: Béla Bartók. Ich horche auf, als sich dem instrumentalen Klangkomplex eine weibliche Stimme beimischt: Die kennst du doch, denke ich, und tatsächlich hat mit Veronika Harcsa eine jazzahead!-Veteranin das Mikro übernommen, die ich auf der 2015er-Ausgabe der Messe interviewt habe.
Neben dem heute auf dem Programm stehenden European Jazz Meeting, als dessen Teil ich neben dem erwähnten Modern Art Orchestra die Wahl habe zwischen Acts wie der 15-köpfigen Kathrine Windfeld Big Band aus Dänemark, der katalanischen Alba Careta Group, dem Trio des schottischen Pianisten Fergus McCreadie, der syrischen Flötistin Naïssam Jalal und ihren Rhythms of Resistance oder dem Schweizer Contemporary Groove Jazz Quintet Ikarus, treffe ich Elvijs Grafcovs von den VERY COOL PEOPLE aus Riga, den ich vor einigen Jahren auf der Messe kennenlernte, als er mir half, ein Glas zu stehlen – so zumindest seine Version der Story. Meine ist: Wir haben Pfand dafür bezahlt, das Glas gehört uns. Stilecht kredenzt er lettischen Rum. Ein weiteres Treffen mit Sängerin Esther Kaiser (rechts im Foto unten), deren aktuelles „Water“-Album an dieser Stelle ebenfalls ausdrücklich empfohlen sei, enthüllt ein altbekanntes Messephänomen: Berliner, die es nicht schaffen, sich in Berlin zusammenzufinden, begegnen sich in Bremen. Von einer befreundeten Promoterin erfahre ich, dass es den Kölnern genauso geht.
Jetzt aber schnell zurück ins Hotel zum Frischmachen, denn gerade habe ich von der Jazzthetik-Redaktion die sanfte Order bekommen, mir in Vorbereitung der kommenden Ausgabe das Gala-Konzert anzusehen. Das findet traditionellerweise am Freitagabend in der Bremer Konzerthaus-Institution Die Glocke mit Künstlern des jeweiligen Partnerlandes statt. Ich werde nie vergessen, wie geflasht ich war, als ich hier in meinem ersten Messejahr das Avishai Cohen Trio gesehen habe! Diesmal stehen mit einer phantastischen Laila Biali und einer das Pech nach dieser zu spielen habenden Malika Tirolien zwei stimmgewaltige Vokalistinnen auf dem Programm. Ohnehin die Geschlechtergerechtigkeit! Das gesamte jazzahead!-Team ist mittlerweile weiblich, und auch bei den Konzerten wird auf eine (mindestens) paritätische Besetzung geachtet. Biali – die neben dem Galakonzert auch noch das Panel „What is Jazz in Canada?“ hostet – reißt nicht nur mich, sondern auch das übrige Publikum mit ihrem teils rauen Soul, teils zarten Singer/Songwriter-Jazzpop (darunter Cover von Joni Mitchell und David Bowie) von den Stühlen; derweil die Bremer mit Malikas AfroFrenchHop, gepaart mit NuSoul-Beats in der Tradition von Erykah Badu oder Jill Scott, nur wenig anzufangen wissen und reihenweise den Saal verlassen. Schade. Doch tatsächlich ist die Musikerin in der Glocke völlig deplatziert gewesen; ihre Late Night Grooves verlangen nach dem intimen Club, nicht nach der großen Konzertbühne. Schade!
Mit Samstag beginnt der dritte (und im Grunde letzte, denn der Sonntag gehört, abgesehen von der traditionellen Verkündung des nächstjährigen Partnerlandes, den Ausstellern mit einem gemeinsamen Goodbye-Frühstück) Messetag, der wie immer der German Jazz Expo vorbehalten ist. Ich höre Künstler*innen wie die Pianistin Clara Haberkamp (bitte checken Sie dringend die berührende Ballade „Mein Herz ist unterwegs“ aus!), die sich von Oliver Potratz am Bass und Lukas Akintaya am Schlagzeug begleiten lässt, oder das neue Jens Düppe Quartet mit Lars Duppler an den Tasten, Christian Ramond am Bass und einem nachgerade überirdischen Frederik Köster an der Trompete, die mich mit dem bislang nicht hundertprozentig überzeugenden Line-up der Showcases aussöhnen. Da darf ich an dieser Stelle wohl schon freudig verraten, dass bei der zeremoniellen Verkündung des nächsten Partnerlandes Deutschland ausgerufen wurde.
Natürlich ist die jazzahead! keine HiFi-Messe, aber Klang ist für den heutigen Jazzmusiker, der schon lange nicht mehr in der verrauchten Spelunke vor sich hintrötet, von essenzieller Bedeutung. So etwa ist die High Quality-Musikstreaming- und -downloadplattform Qobuz vertreten, die ein Herz für Jazzklänge hat. Ich bekomme einen Code für eine 3-monatige, kostenfreie Nutzung – wenn eine/r von Ihnen Interesse hat, möge er mich bitte anschreiben! Auch das von Pianist, Komponist und Klangpionier Ralf Schmid initiierte Klavier- und Elektronikprojekt Pyanook wird im Segment Innovation & Technology vorgestellt, das sich mit seinen zwei Konzertflügeln und den als „advanced wearable musical instrument“ beschriebenen MiMU Gloves als Soulful Technology – und damit vielleicht auch Zukunft der Musik – versteht.
Am Samstagabend stehen aber auch die Overseas Night und die jazzahead! Clubnight nicht nur an – sondern auch in Konkurrenz zueinander. Im Rahmen ersterer spielt beispielsweise der Wahl-New Yorker Tobias Meinhart, ebenfalls ein Bekannter von der letztjährigen Geistermesse, während die Clubnight mit einer schier unübersichtlichen Anzahl von Acts und Labelnights aufwartet. So etwa spielt Kid Be Kid, sie ich sehr mag, im Vegesacker KITO, das ich ebenfalls sehr mag und als willkommenes Hideaway von der Messe schätze. Diesmal nehme ich die Stunde Fahrt nicht auf mich und bleibe vor Ort. Da nämlich die jazzahead! immer auch politisch ist, liegt dieses Jahr ein inoffizieller Fokus auf der Ukraine. Nicht nur, dass etwa das Berliner XJAZZ-Festival (frischgebackener Jazzpreisgewinner in der Kategorie „Festival des Jahres“) von ukrainischen Künstler*innen gestaltete Soli-Plakate verkauft – auch ist das Land zum ersten Mal Aussteller auf der Messe und das Folk-Jazz-Quartett Leléka um die ukrainische Sängerin Viktoria Leléka spielt eines der wohl bewegendsten Clubnight-Konzerte im rappelvollen Zirkuszelt, das mit einem ukrainischen „Die Gedanken sind frei“ aus dieser Messe entlässt.
Ich möchte hiernach keine andere Musik mehr hören und beende meinen jazzahead!-Besuch. Wer Jazz-Musiker*innen aus der Ukraine helfen möchte, findet auf der Messe-Webseite Ideen.
Für mich persönlich ist diese Messe vor allem durch Gespräche gekennzeichnet, die weitaus länger als sonst dauern und nicht in einem oberflächlichen „Wie geht’s dir? Was machst du so?“ verharren, sondern echtes Interesse am Lebensentwurf des Gegenübers bekunden. Vielleicht sind diese tiefen Begegnungen den letzten beiden Jahren geschuldet, die uns so viel darüber gelehrt haben, was wirklich wichtig ist: Wieder zusammen zu sein.
jazzahead! 2022
Do, 28. April – So, 1. Mai 2022
jazzahead! 2023
Do, 27.- So, 30. April 2023
Fotos: Victoriah Szirmai