Zu Besuch bei … be kind 2023 in Berlin. Ein Festivalbericht.
Soundtrack zum Sosein
Text: Victoriah Szirmai
Fotos: David J. Hotz
Immer wieder nach der Sommerpause lässt sich beobachten, dass das Leben wieder an Fahrt aufnimmt. Nicht nur das Tempo des Alltags beschleunigt sich merklich, auch das der Musik, was jetzt natürlich nicht bedeutet, dass nur noch Sounds mit mehr als 120 bpm veröffentlicht werden – vielmehr nimmt die Frequenz der Neuerscheinungen erkennbar zu, und auch der Konzert- und Festivalkalender bläht sich bedrohlich auf.
Der Gedanke dahinter: Niemand möchte seine Musik ungehört im Sommerloch – ob das nun eine urbane Legende ist oder nicht, geschuldet der Urangst aller Urlauber, zu Hause etwas zu verpassen – verschwinden sehen. Damit jedoch erweisen sich Musiker und Industrie einen Bärendienst, denn in der Flut der September- und Oktoberveröffentlichungen ist ein Übersehenwerden allemal wahrscheinlicher als zwischen den spärlichen Releases des Hochsommers. Fakt ist jedenfalls: Der Herbst ist die Jahreszeit, zu der es Platten hagelt – und bezüglich anstehender Konzert- und Festivalbesuche hat man aufgrund von Paralleleinladungen und den daraus resultierenden Terminkollisionen mehr als einmal die Qual der Wahl.
Eingedenk der schönen Erinnerungen an das letztjährige be kind-Festival, das uns vier Tage lang ein wahrhaft königliches Gefühl zu verschaffen verstand, entschieden wir uns auch diesjahr wieder für den Besuch des laut Eigenbeschreibung Festivals for Contemporary Music, das verspricht, „die Freude an der Langsamkeit wiederzuentdecken“. Die Entscheidung fiel nicht leicht, konkurrierte be kind dieses Jahr doch sowohl mit einer neuen Ausgabe der Framed-Reihe als auch dem Releasekonzert der neuen Band von Hütte-Gastorganist Jörg Hochapfel, Bruchgold & Koralle, zu deren in Guy Sternbergs Low Swing Studios aufgenommenem, allen Lesern sehr ans Herz zu legendem Vinyl ich ganz im Zeichen des Zeitlassens den mehrseitigen Begleittext verfassen durfte. Zwar sollte be kind in seiner zweiten Ausgabe nur noch zwei statt vier Tage lang dauern, machte ob der Aussicht auf eine Alltagspause mittels Slow Food. Slow Music. Slow. letzten Endes aber das Rennen.
Doch schon der potenzielle Auftritt der als Eröffnungs-Act am Festivalfreitag angekündigten Tiefsaits dürfte zumindest hinter den Kulissen für einiges an Hektik anstatt für Entschleunigung gesorgt haben, denn nur wenige Tage vor Festivalbeginn hatte das Coronavirus bei dem Celli- und Gamben-Trio zugeschlagen. Ohne zu zögern sprangen drei Protagonisten aus dem – eigentlich auf moderne Klänge spezialisierten – Solistenensemble Kaleidoskop ein, um Tiefsaits mit einem spontan zusammengestellten Barock-Programm für Streichertrio derart angemessen zu ersetzen, dass es despektierlich wäre, hier von Substitution zu sprechen.
Bevor Anna Faber (Violine), Grégoire Simon (Violine, Viola) und Yodfat Miron (Viola) zu ihren Instrumenten greifen, verdunkelt sich das mit seinen um die gigantischen Kupferkessel drapierten Sitz- und Liegesäcken behaglich ausgestattete alte Sudhaus der ehemaligen Berliner Kindl-Brauerei, während von der durch eine breite Treppe zu erreichenden Empore engelsgleicher Gesang ertönt, der sich pur und unverstärkt allmählich im Raum entfaltet. Nun sieht man auch die Sängerin, wie sie Stufe um Stufe, die Violine wie ein schützenswertes Neugeborenes quer vor der Brust haltend, die Treppe hinunterschreitet als wäre sie eine Braut auf dem Weg zum Altar. Alles, was man neben dem Gesang hört, sind die bedacht gesetzten Schritte ihrer pechschwarzen Stilettos, die auf dem Marmor hallen und eine Prise Unheiligkeit in die mystische Szenerie bringen.
Angelangt an ihrem Ziel, einem erleuchteten Inselchen dreier Notenpulte inmitten der monumentalen Finsternis, wird sie bereits von ihren beiden Mitstreitern bzw. -streichern erwartet. Die Klänge verfeinerter Tafelmusik schweben über den Köpfen des halb sitzenden, halb liegenden Publikums – und augenblicklich stellt sich auch wieder das welt- und zeitentrückte Gefühl vom letzten Jahr ein: Die spielen ja nur für mich! Ich muss wohl eine barocke Regentin sein!
Es sind vertraute Klänge, mal bittersüß, mal erhebend – und immer sehr intim. Be kind schweißt die Zuhörerschaft, die sich sowohl aus Wiederholungstätern des letzten Jahres als auch aus neuen Gesichtern zusammensetzt, von den ersten Takten an zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammen, ein jeder zwar mit seinen eigenen Sehnsüchten, Zielen und Wünschen, für den Moment jedoch vereint im hingebungsvollen Zuhören. Mit geschlossenen Augen, im Rücken die beruhigende Stärke der Kupferkessel, an die man sich getrost anlehnen kann, hängt ein jeder seinen eigenen Gedanken nach, bis das Trio beginnt, seine Kleeblattform aufzulösen und mit den Instrumenten in jeweils unterschiedliche Richtungen des Saals zu wandern, was eine erstaunliche Dreidimensionalität des Klanges zeitigt, der den günstig platzierten Hörer nicht nur von rechts und links, sondern auch von hinten beziehungsweise vorn trifft.
Langsam verklingt die Dreistimmigkeit, und auch die beiden noch übrig gebliebenen Violinen werden von einer aus einer blechernen Keksdose improvisierten, dumpfen Handtrommel abgelöst, zu der sich ein fremdländischer, osteuropäisch-orientalisch wirkender Gesang gesellt. Es entspinnt sich ein Duett der beiden weiblichen Trioteile, wobei die mit Springerstiefeln angetane Handtrommlerin/Sängerin mit ihrem Streichinstrument eine Art Bordun kreiert, während die stilettotragende Violinistin/Sängerin unter reichlich gerollten Rs und einigem Wikingertemperamentsausbruch einen ohrenscheinlich nordländischen Shanty anstimmt, von dem sich nur schwerlich sagen lässt, ob er nun antik oder einfach nur experimentell ist. Das Raum-Zeit-Kontinuum löst sich weiter auf, als auch der Dritte im Bunde wieder dazukommt, indem er auf seiner Viola den Bordunton übernimmt, über dem sich ein dreistimmiger Satzgesang entspinnt, der sich als sakral bezeichnen ließe, würde er nicht am Ende jeder Phrase einen der alpinen Folklore entsprungen zu scheinenden, unbesorgt-beschwingten Jam-ti-da–Juchzer hören lassen. Zum ersten Mal gibt es spontanen Szenenapplaus im bislang andächtig lauschenden Publikum, in dem einzig die herumschleichenden Fotografen mit ihren Auslösern ein leises Nebengeräusch verursachen.
Abgerundet wird das erste Set mit der Pizzicato-Version eines bekannten Stücks, nicht unähnlich dem Pachelbel’schen Kanon, dessen Titel einem auf der Zunge liegt, sich aber nicht hervorlocken lassen will. Was nicht weiter schlimm ist, da die Zunge ohnehin gleich anderweitig beschäftigt sein wird: mit der Einnahme des zum Festival gehörenden Essens. Es gibt veganen Szegediner Gulasch mit feiner Sauerkrautnote und Sour Cream an Sauerteigbrot, was superlecker ist, aber nach einem süßen Gegengewicht schreit.
Und so ist man sich, als die bettschwer gefütterte Menge nach der Pause zu ihrer Stimmung befragt wird, auch einig: Man will Nachtisch. Den bietet das genreübergreifend kuratierte Festival mit Schwerpunkt auf Akustischem, dem lediglich der Raum gewisse Einschränkungen auferlegt, dann auch – und zwar in Form des Electronic Soundscape-Duos Merry Peers, denn, so die drei Kuratorinnen Winnie Brückner, Laura Winkler und Anna Bolz, „ein bisschen was Elektronisches ist immer drin“. Der im Festivalflyer festgehaltenen Beschreibung „einsamer Halbgesänge, raumgreifender Bässe und Synthie Sounds“, die „elektronisch-dubbige Klangwelten weben“, ist nur wenig hinzuzufügen: Leicht angeschmutzte Electroclash-Sounds treffen auf Tiefergelegtes, an denen die tschechischen Dub-Trance-Jazzrocker Hypnotix ihre dunkle Freude hätten, das wiederum auf semiätherisch-erdige Female Vocals stößt.
Genau das Richtige also, um sich dem gefürchteten Gulaschkoma zu ergeben und klangbefeuerten Tagträumen nachzuhängen, zu denen nicht zuletzt die reduzierte Beleuchtung nachgerade nötigt. Die hochatmosphärischen Klänge des aus Brad Henkel (Trompete und Elektronik) und Yoshito Klein (Synthesizer) bestehenden Duos, die die Halle fluten, werden weniger als Konzert wahrgenommen denn als Klangtapete im besten Sinne: Als Soundtrack zum Dasein, zum Istzustand, zur aktuellen Befindlichkeit. Es ist ein bisschen wie im Planetarium, wo die Musik aus Boxen kommt anstatt von der Bühne, was Merry Peers zur wohl un-bandigsten Band des Planeten macht.
Und während man noch darüber nachgrübelt, ob ein Electronic-Duo jetzt als Band bezeichnet werden kann oder eher als Act oder vielleicht doch nur als Projekt, ist da mit einem Mal diese Trompete, die sich über den Electronics erhebt und die bisherige Nebenbeimusik zum echten Ambientkonzert transformiert, wie es auch im Klangkosmos eines Nils Petter Molvær zu finden ist. Trotz des neuen Live-Aspekts bleibt die Atmosphäre seltsam unwirklich, wachtraumartig, nichtvondieserweltlich, woran die wieder einsetzenden Celestialgesänge, die sich umeinander windende und voneinander abstoßende rhythmische Figuren bilden, nicht ganz unschuldig sind.
Wenn Stimme und Trompete schweigen, verschwindet das Menschlich-Organische wieder aus den Klängen, die jetzt einmal mehr Traumrauschen zu sein scheinen, nicht nur Soundtrack, sondern eher noch Verstärker der jeweils eigenen Zuhörerbefindlichkeit, gleich einem unkonkreten, dennoch nie absichtslosen Wabern, das keine Ziele vorgibt, sondern alle Möglichkeiten offen lässt. Mit den (ab-)schweifenden Gedanken wird auch das eingeschworene Kollektiv des ersten Sets aufgelöst in einen Saal voller Individuen, von denen das eine wohl an seinen Einkaufszettel, das andere an Euklidische Gleichungen und das Dritte an nichts Besonderes denken mag.
Doch plötzlich ziehen Tempo und Volumen an. Es faucht, dampft und brodelt aus allen Rohren. Die Nachessensträgheit verschwindet, Adrenalin flutet die Adern. Man ist nicht nur schlagartig wach, sondern auch aufnahmefähig für die Coda mit ihren Harmonizer-Vocals über einem sanft abgründigen Drone, das langsam ver- und dann ausklingt. Applaus brandet auf, die Menge regt sich.
Das dritte und letzte Set des Abends führt zurück zum Akustischen, wenn die australische Avant-Folk-Singer/Songwriterin Jessie Monk, flankiert von Pauls Santer am Kontrabass und Fabiana Striffler an der Violine, die Bühne betritt – wobei „Bühne“ bei be kind nicht als podestartig erhöhte Frontalsituation zu verstehen ist, zu der das Publikum gefälligst aufzuschauen hat, sondern auf völliger Augenhöhe mit den Zuschauern realisiert wird. Der vibratoreiche Leadgesang Monks jedenfalls, der den Überschlag am Phrasenende zum Stilmittel erkoren hat, erinnert stellenweise an das keltische beeinflusste Liedgut Loreena McKennitts, ohne aber auf deren unerbittliche Rhythmik zu setzen, sondern stattdessen eine lyrische Weichheit, eine melodische Wärme, kurz: eine große Behaglichkeit zu zelebrieren, wie sie auch bei Jeanette Hubert zu Hause ist. Die Klischees australischer Surfpopmusik sucht man hier mithin vergeblich.
Der Wintersong „It’s Only June“ erinnert daran, dass Down Under – nicht nur – die Jahreszeiten auf dem Kopf stehen, während „What’ll You Be“ mit seinem zweistimmigen Webb Sisters-Refrain mesmerisiert, bevor es einer warm groovenden Rilke-Vertonung, die wie der Old School Soul eines Otis Redding zum Fingerschnipsen anregt, weichen muss. Mit Dylans „One More Cup of Coffee“ wird’s hotelcaliforniaesk, wenn es einem ob Strifflers Geigensolo oh-so-weh ums Herz wird, bevor mit der Eigenkomposition „Gets Me Down“ Launiges geradezu nach dem klassischen Fiddle-Solo schreit. Das Traditional „I See The Sun“ gibt den Blick auf den Horizont bis hin nach Nashville frei, wo man sich dank kreistanzartiger Durchgetaktetheit an Barockes erinnert fühlt, bis ein De-dem-da-doo anhebt zu jubilieren, ohne den perfekten Zirkelschluss zum Festivalbeginn zu zerstören, sondern ihn vielmehr mit mundwinkelhebender Erhabenheit zu krönen. Die ersten Zugabe-Rufe des Abends werden laut.
Das Verlangte wird in Form der Satzgesangsnummer „I Embrace The World With You In It“ gegeben, die vermutlich ein jeder noch auf dem Heimweg singt. Wer jetzt noch unterwegs stoppt, um einen Nachtisch zu erstehen, kann ohne Einschränkungen von einem vollkommenen Abend sprechen.
Es ist Samstag und damit der zweite – und gleichzeitig letzte – Tag von be kind 2023. Heute ist das Sudhaus derart prall gefüllt, dass sich die Veranstalterinnen genötigt sehen, zugunsten der Musik um eine „sehr stille und feine Atmosphäre“ zu bitten. Prompt fällt ein Glas um, was in der weitläufigen Halle klingt, als hätte ein LKW-Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und steuerte direkt in eine Kaufhausscheibe hinein, hinter der Kristallgläserpyramiden, edle Porzellane und allerlei Silberbesteck kunstvoll aufgetürmt sind. Alles lacht, um gleich darauf der Bitte zu entsprechen, denn die Akustik ist tatsächlich so empfindlich, dass man selbst beim möglichst unauffälligen Davonhuschen in die Rest Rooms die Schuhe ausziehen muss, will man keinen störenden Laut verursachen. Ja, selbst die übers Notizpapier gleitende Bleistiftmine verursacht hier eine unnatürliche Lautstärke!
Es ist also mucksmäuschenstill, als das Experimental Chamber Jazz-Trio um die frisch mit dem SWR Musikpreis ausgezeichnete Harfenistin Kathrin Pechlof den Saal betritt. Eine neue Ebene der Lautlosigkeit ist erreicht, als die ersten fragilen Saitenklänge dieses immer in gewisser Weise märchenhaft und damit irreal erscheinenden Instruments den Raum befüllen und be-stillen. Aus dem selbstvergessenen Harfensolo entsteht allmählich ein sanfter Zwiegesang, als die heiser-schmelzenden Saxophontöne Christian Weidners dazustoßen, die das Slow-Mantra des Festivals in Perfektion verkörpern – so zeitlupenlangsam und molltonumarmend fliegen sie schwerelos hoch hinauf zur Kuppel, bevor Robert Landfermanns Kontrabass sie wieder erdet. Auch, wenn die Töne sich zunehmend freier gerieren, hat ein Großteil der Lauschenden die Augen geschlossen, um sich ganz einer sperrigen Schönheit hinzugeben, die vom hauchzart-verhaltenden Flüstern bis hin zum nachdrücklich-gequälten Aufschrei das volle Spektrum der Emotionsklaviatur zum Klingen bringt, bevor sie nach einer Stunde supersoft verebbt.
Es ist einer dieser Momente, wo nach dem Verklingen des letzten Tons noch ein paar Sekunden lang Stille herrscht, bevor das Publikum wagt, seiner Begeisterung lautstark Ausdruck zu verleihen, verhalten zunächst, nachgerade frenetisch zum Schluss. Die aufgepeitschte Stimmung wird mit der Einnahme des Festivalessens besänftigt, das heute durch wunderbare vegane Burritos mit gegrilltem Kürbis, Möhren und Kartoffeln, gebackenen Kichererbsen, Räuchertofu, Tahinsauce und Sriracha-Mayo besticht.
Kurz nach neun nimmt der zweite Act des Abends in Gestalt der marokkanischen Stil- und Kulturwanderer Aficionado, bestehend aus Gitarrist Naoufal Montassere und Oud-Spieler Alaa Zouiten, hinter seinen Instrumenten Platz. Zu hören gibt es, was der normalgebildete Nordwesteuropäer als Flamenco bezeichnen würde – das Duo indessen spricht lieber von „Flamenco Moro“, denn schließlich spielt die maurisch-andalusische Tradition Marokkos eine große Rolle in seinem Repertoire. Tatsächlich mischen sich mehr und mehr orientalische Skalen in die Darbietung der beiden Saitenvirtuosen, und spätestens, wenn der Gitarrenkorpus als Schlaginstrument dient und die Oud mit ihrem ganz speziellen, immer auch ein bisschen dumpf metallisch scheppernden Klang akzentuiert an den Saiten gerissen wird, findet sich der Hörer in ein Zwischenreich von Orient und Okzident versetzt, wo alles, was existiert, zu einer universell menschlichen (Klang-)Sprache verschmilzt, von der sich jedermann angesprochen fühlt und auch gemeint ist.
Das gedämpfte rote Licht, der sanfte, aber zwingende Rhythmus, die oh-so-vertraut und gleichzeitig aufregend exotischen Melodien erschaffen eine dunkel-funkelnde Welt, bevölkert von Gärten mit üppigen Zierfarnen, verborgenen Wasserspeiern und geheimnisvollen Nachtvögeln, es gibt Gerüche, Geräusche und Schatten, die bei Tage vermutlich jeglichen Geheimnisses entbehren, hier und jetzt aber ganz und gar verzaubern. Die von den Klängen heraufbeschworene Szenerie reißt derart mit, dass es spontanen Zwischenapplaus gibt, bevor Aficionado ihr Konzert fortsetzen können.
Spätestens an dieser Stelle kann man nicht umhin, die Finesse der Programmierung zu bewundern, lässt der zunehmend treibende Rhythmus dem nachabendmahligen Sattkoma doch keine Chance. Anstatt prall in seinen Sitzsäcken zu hängen, lauscht das Publikum aufgerichteten Oberkörpers und aufgerissenen Auges unter taktbegleitendem Kopfnicken dem Geschehen. Vermutlich würden nicht wenige gern tanzen wollen, forderte man sie nur auf. Und das umso mehr, als eine milongaeske Pastorale erklingt, die grüne Wiesen, gleißende Sonnenstrahlen und wattige Schäfchenwolken in die nunmehr taghelle Szenerie bringt – nur, um bald darauf wieder in die mystische Nächtlichkeit zurückzugleiten. Wer einen Liebsten neben sich auf dem Sitzsack weiß und nicht spätestens jetzt zur engumschlungenen Schmuseeinheit verschmilzt, ist selbst Schuld! Und so endet das Konzert, O-Ton Aficionado, dann auch mit einer „glücklichen Note“, kuschelig, beschwingt und licht.
Jazz, nothing else, and so much more ist das Motto des finalen Festival-Acts, der von den Genre-Stars Aki Takase am Klavier und Daniel Erdmann an den Saxophonen gestellt wird. Und allem Anschein nach ist nichts als Jazz und so viel mehr zunächst einmal: sehr laut, sehr mächtig und sehr frei. Und danach: sehr zart, sehr fein und sehr schön. Die epischen, hier und da aufkreischenden Melodiebögen Erdmanns fliegen über Takases Tastentupfern, die mal einem ruhig dahinströmenden Flussbett, mal einem aufgescheuchten Bienenschwarm gleichkommen, bevor die Musikerin fragil in die Flügelsaiten greift, um gleich darauf wieder mit einer derartigen Wucht (und ab und an auch ihren Handkanten) in die Tasten zu hauen, die man diesem schmalen Frauenkörper nicht zutrauen würde, träfe man ihn auf der Straße an.
Entgegen allen Kraftausbrüchen dominiert das Episch-Lyrische, das – allen Exkursionen ins Freie zum Trotz – immer wieder an die Oberfläche drängt, und das durchaus ebenso tempo- wie temperamentreich, konterkariert von tranceartigen Momenten, die von Erdmann in seiner Funktion als lebendige Live-Loop-Maschine kreiert werden. Gemeinsam schaffen die beiden Künstler ein Frage- und Antwort-, wenn nicht gar ein Katz- und Maus-Spiel, wobei nicht immer ganz klar ist, wer die Fragen stellt, wer die Antworten gibt, wer Verfolger ist und wer Verfolgter, derart blitzschnell wechseln sie die Rollen wie sonst nur junge Hunde beim ausgelassenen Spiel. Das Ganze spitzt sich dergestalt zu, dass es das atemlose Publikum von seinen Plätzen risse, käme es jemals wieder ohne fremde Hilfe aus diesen menscheneinsaugenden Sitzsäcken hinaus! Ab einem gewissen Alter ist das nämlich völlig aussichtslos, und das be kind-Publikum hat eine gute Altersmixtur vom jungen Hipster hin zum in Ehren ergrauten Greis, dazwischen das eine oder andere (Musiker-)Kind und der Veranstalter-Hund.
Nach einer kleinen Weile nicht immer eleganter gymnastischer Übungen ist das kollektive Aufstehen gemeistert; es hagelt tosendem Applaus bei Standing Ovations, die erst der softe Standard der ersten Zugabe – Mingus‘ „Duke Ellington’s Sound Of Love“ – wieder ruhig spielt. Die zweite Zugabe, die den Abschluss des Festivals bilden soll, ist eine Takase-Eigenkomposition, welche sich wie eine moderne Mondscheinsonate anlässt und einen glitzerbestäubten Zauberschleier über den Abend ausbreitet, den die sehr müden, aber auch sehr glücklichen Menschen als Souvenir mit nach Hause nehmen, um ihn über die bald schon wieder ihr Haupt hebende Alltagshektik zu legen.