Zum Auftakt des Jahres war es an uns, das Versprechen auf ein kulturelles Geburtstagsgeschenk einzulösen. Ich erzählte ja bereits bei dem einen oder anderen Konzertbericht davon, dass ich als Geburtstagskind häufiger der Empfänger eines Konzerterlebnisses bin. In diesem Fall nicht The Prodigy oder Deine Lakaien.
Nein, dieses mal sollte es ein gemeinsamer Besuch mit Freunden in der Stuttgarter Oper sein: Der Freischütz von Carl Maria von Weber mit dem Libretto von Johann Friedrich von Kind. Aus guter Tradition im 2. Rang. Diesmal recht weit links. Der Sitzplatz hatte zwar das Manko mit einem kleinen blinden Fleck vorne links ein wenig schief auf die Bühne zu schauen, dafür bekamen wir einen wunderbaren Blick auf die Bühne, das Orchester – das für die Meisten im Saal ja im Verborgenen arbeitet – und das herrliche Opernhaus präsentiert. Auch hatte das Orchester – wahrscheinlich durch den direkten räumlichen Bezug – einen leicht weicheren, organischeren Klang. Anders als auf anderen mir bisher bekannten Plätzen. So freuten wir uns also aus dieser besonderen Perspektive auf den Freischütz. Oder kurz zusammengefasst, auf „Guter Jäger, böser Jäger“.
Der Freischütz ist eine deutsche Oper aus der Zeit der Romantik. Wobei die Romantik, vordergründig interpretiert, in der Handlung nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die Handlung ist eher tragisch und umreißt grundsätzliche menschlichen Schwächen. Die Stuttgarter Inszenierung Achim Freyers kontrastiert das als Komödie, die in ihrer heiteren, mitunter albernen Art die Bedeutung des musikalischen Werkes von Carl Maria von Weber in keinster Weise schmälert, aber dadurch die dargestellten menschlichen Abgründe nur noch hervorhebt. Auffallend waren, kennt man den Freischütz nicht, die großen Sprechanteile, die die Geschichte erzählerisch voranbringen. Und die vom Stuttgarter Ensemble für meinen Geschmack hervorragend und sprachlich verständlich transportiert wurden. Die Art der Inszenierung ließ zudem viel Raum für ein Schauspiel, den das Ensemble großartig nutzte. Beispielsweise als Kaspar auf der Suche nach einem Ziel ins Publikum anlegte, nicht ohne bei seiner Wahl offensichtlich selektiv vorzugehen. Oder beim Vorbeimarsch der Jäger, den einzelne Akteure ambitioniert amüsant gestalteten. Beides wurde mit kräftigem Szenenapplaus belohnt. In mir entstand der Eindruck, dass ein gut gelauntes Ensemble für ein ebenso gut gelauntes Publikum spielte, das sich anstecken ließ.
Doch kurz zur eigentlichen Handlung: Im Eröffnungsbild verharrt der Eremit lange mit dem Rücken zum Publikum regungslos im Bühnenbild, sodass ich dachte, ich sähe einen Teil der Dekoration. Als sich das Orchester und das Publikum sortiert hatte und das Licht erlosch, war klar, dass es tatsächlich ein Schauspieler war, der darauf wartete, in Aktion zu treten. So eröffnete die Gestalt des Eremiten die Handlung, die recht schnell zum Kern der Sache kam.
Der Jäger Max war in letzter Zeit ein glückloser Schütze. Bei einem Schützenfest verliert er, der stattliche Jägerbursche, gegen den Bauern Kilian. Der Landjunge wird dementsprechend vom Volke gefeiert und der feine Max verspottet. Was Max nicht weiß: Sein Handeln stand unter dem schlechten Einfluss des Zauberers Samiel – Sinnbild des Teufels. Max verliert sein Selbstbewusstsein, das er dringend nötig hätte, will er doch Agathe, Tochter des Erbförsters Kuno, freien und die Erbförsterei ihres Vaters übernehmen. Der Brauch verlangt allerdings nach dem „Freischuss“. Die erfolgreich absolvierte Prüfung attestiert dem Anwärter seine Würdigkeit hierzu.
Derart unter Druck verstrickt sich Max gegenüber Agathe in Lügen und lässt sich auf seinen Jäger-Kumpel Kaspar ein. Dieser hatte früher schon ein Techtelmechtel mit Agathe und kehrte unlängst aus dem 30-jährigen Krieg zurück. Kaspar war einen Bund mit Samiel eingegangen, um für sich Freikugeln gießen zu können, die ihn zum unfehlbaren Jäger machten. So zog Kaspar Max mit in sein schändliches Spiel und bot dem Zauberer Samiel Max, Agathe und ihren Vater Kuno als Opfer.
Der Verrat bahnt sich beim Ritual in der Wolfsschlucht an und soll mit dem Freischuss vor der Hochzeit vollzogen werden. Mit der siebten Kugel, die in der Wolfsschlucht gegossen wurde. Die ersten sechs unfehlbaren Kugeln teilen sich Kaspar und Max je drei, die aus dem verspotteten Max wieder einen achtbaren Jägerburschen machen.
Am Tag der Hochzeit soll der Freischuss fallen, bevor die Braut und ihre Entourage auf dem Gelände eintreffen. Max legt zum Freischuss auf eine Taube an und schießt somit mit der siebten Kugel, die dem Teufel gehört. Gleichzeitig trifft die Braut auf der Szene ein und fällt scheinbar tödlich getroffen zu Boden. Zum Glück lenkt der Eremit, der gleichzeitig erscheint, die Kugel ab, die schließlich Kaspar selbst tödlich trifft, der in einem Baum saß.
Max gesteht vor dem erzürnten Landesfürsten, der den traditionellen „Freischuss“ forderte und der der Hochzeitsgesellschaft vorsteht, seine Missetaten. Das Einwirken des Eremiten und der Druck des Volkes stimmt den Landesfürsten schlussendlich gnädig. Dieser gewährt, statt einer Verbannung auszusprechen, Max eine Bewährungsfrist von einem Jahr, bevor er seine Agathe freien darf. In einem großen Schlusschor wird die milde Gottes gepriesen gegenüber allen, die reinen Herzens sind.
Der „Freischütz“ als Inszenierung der Stuttgarter Oper hat mir mächtig Spaß gemacht. Ich gebe zu, der erste Akt, der in die Handlung und die Charaktere eingeführt wurde, ist für mich immer eine kleine Herausforderung, ist das Geschehen doch meist überschaubar. Die Oper nahm dann aber deutlich an Fahrt auf. Der Stuttgarter Freischütz hat für mich von den traditionellen Kostümen gelebt, die eine klare Struktur von grün, weiß und rot in die Szenen gebracht und das Jägervolk stark symbolisiert haben. Die Gesellschaften bildeten dazu einen fantastischen Rahmen für die Chöre. Eine gewisse Heiterkeit war dergestalt vorprogrammiert. Kontrast zur Tradition war die puppenhafte Schminke, die die Charaktere gezielt herrlich überzeichnet haben.
Ohne das Schaffen aller anderen schmälern zu wollen, die ihre Rolle bis in kleinste Detail ambitioniert spielten, kommt mir rückblickend das herausragende komödienhafte Spiel und der Gesang von Agathe und ihrer Cousine, dem Ännchen, in den Sinn. Ebenso wie das Agieren des zweiten Duos – böser Jäger, guter Jäger – Kaspar und Max. Schön war, das neben den großen Rollen auch die Brautjungfern mit dem Brautlied kleinere Rollen ihre Bühne bekamen. Ein echter Knaller war auch die Inszenierung der „Furchtbaren Wolfsschlucht“ (2. Akt, 2. Szene), dem Sinnbild der Hölle. Hier hat sich der Kostümbildner austoben dürfen und eine kontrastreich skurrile Szenerie geschaffen. Abgründe. Provokant und ausdrucksstark, aber für meinen Geschmack nicht zu viel des Guten. Das ist etwas, was ich an den Stuttgarter Inszenierungen mag.
Musikalisch routiniert untermalt vom Staatsorchester Stuttgarter, dem ich aus exponierter Lage bei der Arbeit zuschauen durfte, zauberte das Stuttgarter Ensemble eine ebenso heitere wie ernste Stimmung auf die Bühne, die das Publikum und mich ergriffen sowie drei schöne Stunden abseits des Alltags beschert hat. Das Publikum dankte es den Akteuren, die bis in die kleinste Rolle voll mit dabei waren, mit einem kräftigen Applaus. Grund genug für mich, den Spielplan der Stuttgarter Oper für 2020 gründlich zu studieren. Das Jahr ist ja noch lang…