Nacht und Schönheit
Yael Nachshon Levin | Tigers and Hummingbirds
(Low Swing Records)
Treue Leser erinnern sich: Anfang des Jahres waren wir bei der vom israelischen Duo Yael Nachshon-Levin (Gesang) und Haggai Cohen-Milo (Bass) ins Leben gerufenen Konzertreihe Framed zu Gast, welche im Berliner Gropius-Bau die Veröffentlichung ihrer zweiten Compilation mit feinsten handgemachten Akustikklängen und nicht minder exquisiter, hausgemachter Feinkost beging. Das Analoge, Langsame, Echte hat es Nachshon Levin derart angetan, dass sie auf ihrem aktuellen, mittlerweile fünften Soloalbum Tigers and Hummingbirds schon zum zweiten Mal auf Analog-Experte Guy Sternberg und sein Low Swing Recording Studio setzte, das für liebevolle Tonarbeit jenseits des Digitalen steht – konsequent samt Vintage-Equipment und Hi-End-Zulieferern, vom Full Analogue Recording übers Direct-Metal-Mastering bis hin zum One Step Pressing. Herausgekommen ist eine exklusiv auf Vinyl erschienene, audiophile 140-Gramm-Platte aus der renommierten HiFi-Manufaktur Brinkmann Audio, bei der man Download-Code & Co vergeblich sucht.
Belohnt wird der Albumkäufer mit einer handnummerierten Kleinauflage, die auf der dem Studio angeschlossenen Plattenfirma Low Swing Records erschienen ist und bereits auf den ersten Blick durch ein faszinierendes, mysteriös-mystisch anmutendes, teilweise auch ein bisschen unheimliches Artwork, dem das Ölbild „Beasts“ der 1984 in Gothenburg geborenen Wahlberlinerin Emeli Theander zugrunde liegt, besticht. Ein acht-seitiges Booklet in Schallplattengröße enthält nicht nur alle Songtexte sowie einige Bilder der beteiligten Musiker – darunter neben Haggai Cohen Milo am Bass auch Earl Harvin (Jeff Beck, Air) an den Drums, Justin Stanton (Snarky Puppy) an Hammond, Wurlitzer, Rhodes und Klavier, Thomas Moked Blum (Fink) an Gitarre, Bratsche und Bouzouki, Sebastian Studnitzky an der Trompete und Sternberg höchstselbst am Moog –, sondern gibt auch einen umfangreichen Einblick in den analogen Produktionsprozess, inklusive einer Erklärung Helmut Brinkmanns, weshalb er 140er-Vinyl dem 180er vorzieht. Während der Aufnahmesession selbst stand Nachshon Levin als Mentor der legendäre Bassist Greg Cohen zur Seite, der seine Erfahrung aus der Zusammenarbeit mit Künstlern wie Tom Waits – und damit ein Faible für die Nachtseiten der Musik – mit ins Spiel brachte.
Kurzum: Diese Platte ist schon, ohne dass man auch nur einen einzigen Ton von ihr gehört hat, extrem mögenswert. Doch natürlich wollen wir uns die Töne der zehn von Nachshon Levin geschriebenen Stücke, die auf eine sehr private Reise ins Reich einer posttraumatischen Belastungsstörung – vom ersten Wundenschlag über den komplexen Heilungsprozess bis hin zum hellen Licht der Hoffnung – einladen, nicht entgehen lassen! Die schleichen sich mit „Feel at Home“ sanft, sehr sanft, mit gedämpften Bläsern und einem Beat wie klanggewordene Katzenpfoten behutsam an – wäre da nicht dieses trotz vordergründiger Schmeichelweiche nie eine gewisse Kantigkeit vernachlässigende Storytelling Nachshon Levins, das uns in all my mess welcome-t, man wähnte sich in einem Schaumbad aus Körper und Geist umschmeichelnden Blue Note Bubbles und einer nahezu schon verboten gehörenden Sultriness. Bezirzende Chöre auf „Dreams“ fachen die mitternächtliche Stimmung after closing the lights einmal mehr an, bevor „Far away“ das Tempo ein bisschen anzieht, wobei es dennoch der soften Akustiktonalität treu bleibt, derweil der nocturne Klang einem wohligen Schaukelstuhl-vor-Kamin-Gefühl weichen muss, der einen von einem Sehnsuchtsort voller Marshmallows in heißer Schokolade, grobgestrickten Hüttensocken und freundlicher Gesellschaft träumen lässt.
Bitterlich allein dagegen imaginiert man die Protagonistin des mit neoklassischen Kammermusiknoten flirtenden „Today“s, das ein verdammt schlechter Tag gewesen sein muss. So einer, an dem man versucht, sehr versucht, wirklich mühevoll versucht, aber doch scheitert wie hier auf offenem Akkord. Das eigenwillige „Gut Feeling“ ist ein Stück fürs zweite Hören: Erst leicht sperrig, nimmt es immer mehr gefangen, bis es einen, nicht zuletzt aufgrund der in den Magen treffenden Basslinie, fest in seinen verwunschenen Klauen hält und nicht mehr loslässt. Seite A ist damit rum – und Nachhallzeit nötig. Die gibt es automatisch beim Gang zum Plattenspieler, um die Platte umzudrehen – eine fast schon verschwundene Kulturtechnik, die dringend erhalten werden sollte, allein aus Gründen der Zwangspause, die eine Playlist niemals gewähren kann.
Seite B tappt mit schweren Klavierakkorden durch den Dschungel, ein dunkel flammender Tiger, der sich auf seine Beute wirft wie die Depression, so schwer, dass man sich nicht mehr regen, geschweige denn aufstehen kann. Irgendwann dann aber liftet sich die Schwere, als hätte jemand eine Bleidecke von einem gezogen, während Nachshon Levin mit ihrem Background-Chor inbrünstig jubiliert und gospelt, wie es sonst nur Leonard Cohen mit seinen Webb-Sisters tut. Unruhig flattert der „Bird of Popular Song“ durch diese geheiligte Szenerie, die mit einem mal wieder sehr irdisch erscheint – und das im besten Sinne: Oh, ein Sonnenaufgang hier! Und schau, diese Wolke dort! Und fühlst du auch den Wind auf der Haut?
„It’s Okay“ ist einer dieser All American Songbook-Wiedergänger, angesichts derer man überzeugt ist, einen lange verloren geglaubten Klassiker wiederzuentdecken. Ein bisschen kitschig vielleicht dank der Flöte, aber genauso musste das sein, damals am Broadway. Und jeder, wirklich jeder, wird sich ob dieser gefühlten Instant-Vertrautheit darauf verlassen, dass er im Falle des Verlorengehens nur Yael Nachshon Levins Namen rufen müsse wie den seiner Mutter, und alles käme auf wundersame Weise in Ordnung. Ach, was für ein Wiegenlied! Die klanggewordene Durchhalteparole „Hold On“ kennen HiFi-IFAs-Leser schon vom eingangs erwähnten Framed Record Release, haben wir unserem Bericht doch das Livevideo des Songs zu Zwecken der Veranschaulichung und Verzauberung beigegeben. Der wiegende Charakter und die zunehmende Eindringlichkeit der Konzert-Version sind auch auf der Studioaufnahme perfekt eingefangen – sterile Werkstattatmosphäre, die alles Organische killt, sucht man hier vergebens. Die Aufnahme klingt wie live – nur eben sehr, sehr viel besser.
Eigentlich bräuchte der Hörer nach dem motivierenden Schlusspunkt Things have changed/they‘ll change again kein weiteres Lied mehr. Mit „Hummingbird“ lässt Nachshon Levin dessen ungeachtet noch einen Closer folgen, der mit nur einem Wort beschrieben werden kann: positiv. Sonne, Bienen und Blumen. Was hier überhaupt nichts mit jenen hirnwirren Querköpfen zu tun hat, die „Lachen, Licht und Liebe“ zu ihrem Motto erklärt und damit das urmenschliche Bedürfnis nach Wohlgefühl und Angenommensein annektiert haben, sondern schlicht mit Schönheit, Resilienz und ja, auch Lebensfreude.
Und die ist ansteckend. Nur ein ganz bisschen Wehmut kommt bei dem Gedanken auf, dass man diese Musik nicht mit sich herumtragen kann. Vielleicht gehe ich stattdessen raus, lege mich unter einen Apfelbaum und schaue mir die Wolken an.