Nach über zwei Jahren Abstinenz war es für mich endlich mal wieder soweit: ein Konzertbesuch. Ein Geschenk von Freunden zu meinem Fünfzigsten. Mein letztes Konzert war Deichkind in der Porsche Arena Ende Februar 2020, kurz nach den Norddeutschen HiFi-Tagen 2020 und ein paar Tage vor dem Lockdown. Auf der Eintrittskarte, die ihr Dasein ein Paar Jahre in der Schublade fristen musste, waren nach dem ursprünglichen Veranstaltungsdatum 21. Juni 2020 mit Kuli hoffnungsvoll noch zwei weitere, revidierte und damit durchgestrichene Nachholtermine vermerkt.
Heuer, nach auf den Tag genau nach zwei Jahren, war es dann am 21. Juni 2022 im Rahmen der Schlossfestspiele soweit. Und ich war gespannt wie ein Flitzebogen: Die Einstürzenden Neubauten gaben nun endlich ihr Gastspiel in der nahverkehrsgünstig gelegenen, modernen MHP Arena in der City von Ludwigsburg. Ich gebe zu, die Einstürzenden Neubauten waren für mich absolutes Neuland und ich war total unvorbereitet und eher skeptisch. Aber den Mutigen gehört ja bekanntlich die Welt. Nicht weit von der MHP Arena entfernt liegt übrigens auch das Scala, das ich vom unplugged Konzert von Deine Lakaien sowie zwei Kari Bremnes Auftritten kenne.
Vor rund 1.000 Zuschauern eröffnete recht pünktlich kurz nach Acht die Vorband. In Ermangelung genauerer Information dachte ich zuerst, der Veranstalter hätte einer Schülerband die Chance für einen öffentlichen Auftritt gegeben. Wahrscheinlich verstärkte sich der Eindruck der Jugend, da das Publikum, wie die Besetzung des Headliners eher reiferen Semestern angehörte. Als ich meinem Freund meinen Eindruck mitteilte, raunte er: „DIE NERVEN, glaube ich“. Worauf ich fragte, ob er „die nerven“ oder „Die Nerven“ meinte.
Klar, die Band hieß „Die Nerven“ und eine spätere Recherche sagte mir, dass das Trio aus Kevin Kuhn (Schlagzeug), Julian Knoth (Bass und Gesang) und Max Rieger (Gitarre und Gesang) bereits 2010 gegründet wurde. Die Stuttgart Post-Punk, Indie- und Noise-Rock-Kapelle veröffentlichte bisher vier Alben, zuletzt FAKE im Jahr 2018, das von der Zeitschrift „Intro“ als „das beste deutsche Album des Jahres“ tituliert wurde. Ganz so unbekannt wie ich dachte – ich hatte halt keine Ahnung – sind Die Nerven, die ihr Hauptquartier zwischenzeitlich nach Berlin verlagert haben, also nicht. Im Oktober soll ihr fünftes Album erscheinen, wovon die aktuelle Single „Europa“ bereits auf dem Markt ist, die die Stuttgarter auch zum Besten gaben.
An Selbstbewusstsein mangelte es den Dreien jedenfalls nicht, die auf der schlichten Bühne vor dem Tuch-behangenen Equipment der Einstürzenden Neubauten spielten. Rechts und links ein Verstärker-/Boxenturm, von dem je ein Mikro den Sound für die Hallen PA abgriff. „Das ist unser erstes Mal in Ludwigsburg“ klang wie „It’s good to be here – our first time in Las Vegas“ – ausser das im ÖPNV des VVS Ludwigsburg nur zwei Tarifzonen von ihrer Heimat entfernt ist 😉 Dafür gab es dann den Sound volles Rohr auf die Ohren.
„Die Nerven“ wollten das Haus rocken. Hatten Bock darauf, lieferten ihre Show. Für das Publikum, für sich selbst. Das spürte man. Und den Job haben sie etwas über eine halbe Stunde gründlich erledigt. Eine geile Vorstellung. Ich hatte Sorge, dass sie im Eifer des Gefechts am Ende aus Versehen noch ihre Gitarren kaputt hauen. Das Publikum war begeistert, ich auch – und 100% mit mir im Reinen. Egal, was die Einstürzenden Neubauten unbekannterweise nun abliefern würden, der Abend hatte sich bereits gelohnt. Die Nerven haben die Messlatte so hoch gelegt, dass der Headliner mehr als eine müde Vorstellung abliefern musste, um seiner Rolle gerecht zu werden. Nur gut, dass mein Kommentar von wegen Schülerband niemand mitbekommen hat 😉
Punkt 21 Uhr ging es nach kurzem Umbau weiter im Programm. Blixa Bargeld, charismatischer Frontmann der Einstürzenden Neubauten, die dieses Jahr seit über vierzig Jahren auf der Bühne steht, bemerkte knapp und leicht lakonisch: „long time no see“. Recht hatte er. Im doppelten Sinne. Zum einen musste ich zwei Jahre auf die Einlösung meines Geburtstagsgeschenk warten, zum anderen traten die Einstürzenden Neubauten nach 18 Jahren das erste Mal wieder im Großraum Stuttgart auf.
Was viele vielleicht nicht wissen: der 1959 als Hans-Christian Emmerich geborene charismatische Blixa Bargeld, der seinen Künstlernamen dem dadaistischen Künstler Johannes Theodor Baargeld entlehnt hat, ist nicht nur Urgestein und Frontmann der Einstürzenden Neubauten, sondern war 1984 Gründungsmitglied und bis 2003 Gitarrist von Nick Cave and The Bad Seeds. 1999 verlieh er als Sounddesigner dem Hollywoodblockbuster „Die Mumie“ eine kreischende und krächzende Stimme. Das Leben des Künstlers darf in der Szene durchaus als bewegt bezeichnet werden. Bassist Alexander Hacke war übrigens in den 80ern mit Christiane F. („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) liiert.
Das zweite Gründungsmitglied, der Perkussionist N. U. Unruh (Andrew Chudy), erschien mit medizinischer Maske im Karo-Hemd und Schlapphut auf dem Set, als schaute er nach einem Tag im Schrebergarten bei seinen Kumpels zum Musik machen vorbei. Die Einstürzenden Neubauten waren – und das fand ich spannend – sechs eigenständige Typen auf der Bühne. Blixa Bargeld allen voran barfuß in Anzug und Weste.
Zweiter Perkussionist war Rudolf Moser, an der Gitarre Jochen Arbeit – beide auch schon seit 1997 dabei. Das live Ensemble komplettierte der Keyboarder Felix Gebhard, der seit 2014 live unterstützt. Er steuert synthetisch die Klänge bei, die die Einstürzenden Neubauten nicht als Instrumente Marke Eigenbau oder Streicher-Ensembles live mit auf die Bühne schaffen konnten. Nach eigenem Bekunden reicht für das Bandleben lange nicht mehr der Probenraum, sondern es Bedarf auch zweier eigens angemieteter Lagerräume zur Aufbewahrung der DIY-Instrumente.
Auf der Bühne mit dabei waren neben einer blauen Plastik-Regentonne auch ein Einkaufswagen, der von Rudolf Moser gekonnt in Einklang gebracht wurde. N. U. Unruh kam mit Pressluft und Sticks (man möchte sagen: eine rustikale Spielart der Blue Man Group, die dagegen wie ein alberne Hollywood-Truppe wirkt) grauen Abwasser-Kunststoffröhren als Klangkörper bei.
Der Opener „Wedding“ – ich habe in meinem Leben noch nie so häufig den Namen des Berliner Stadtbezirks gehört wie in diesen rund vier Minuten – eröffnete eher unspektakulär, so dass ich dachte: okay, das sind also die Einstürzenden Neubauten. Hmmm. Klar wurde schnell der enge Bezug zur Hauptstadt, da die Titel „Tempelhof“, „Grazer Damm“ und „Am Landwehrkanal“ wie eine kleine schicksalhafte Stadtrundfahrt durch die Metropole anmutete. Letztgenannter Titel kam im Country/Folk Gewand daher. Unerwartet. Nachdenklich. Klasse. „Wir trafen uns manchmal, auch manchmal bei Nacht – Berlins dunkler Himmel gab uns ein Dach – Wir hatten tausend Ideen, und alle war’n gut – Jetzt ist sie nicht mehr dabei am Landwehrkanal“. Nein, nicht einfach „klasse“. Gänsehaut.
Das aktuelle Album „Alles in Allem“, das die Band an diesem Abend komplett zum Besten gab und das das erste nach 2007 war, entstand mit Hilfe des selbst entwickelten Kartenspiels „Dave“, so erläuterte es Blixa Bargeld zwischen den Titeln. In den 100 Werktagen, in denen das Album Gestalt annehmen sollte, zogen die Musiker aus einem Set Karten, auf denen Anweisungen vermerkt waren und befolgten diese, ohne den Inhalt zu verraten. Eine vorbeugende Maßnahme gegen Monotonie. „Dave“ sollte Chaos erzeugen, aus dem Chaos Improvisationen und daraus Songs. Und diese waren erstaunlich musikalisch, nachdenklich und die Titel fast avantgardistische Lyrik, die sich Blixa Bargeld mitunter auf der Zunge zergehen ließ. Das Bühnenbild war schlicht. Ein Tuch als Projektionsfläche für Licht und Schatten. Die dominierenden Farben weiß und blau. N. U. Unruh rezitierte darin mit großer Geste und schrulligem Kostüm wirres Kauderwelsch. Willkommen bei den Einstürzenden Neubauten 2022.
Divenhaft gab sich auch der große Meister am Mikrofon, als er zu Beginn des Konzertes einen Fan am Bühnenrand zur Ordnung rief: „Hör mit dem Pfeiffen auf…“. Wahrscheinlich ist Blixa das auf den Keks gegangen und nach über 40 Jahren im Arbeitsleben darf man da wohl auch mal offen seine Meinung sagen. Nachdem der Störenfried zur Seite geleitet wurde ging es weiter. Das Konzert entwickelte sich und wurde musikalisch dichter und opulenter. 13 Songs und fünf Zugaben später legten die Einstürzenden Neubauten nach rund eindreiviertel Stunden das Mikro und die Instrumente nieder. In der frühen Phase der Band hätte ich ein solches Konzert wohl nicht durchgestanden. Aber ich habe mich geändert und die Akteure auf der Bühne haben im Laufe der Jahrzehnte wohl auch eine Entwicklung durchgemacht. Geflasht verließ ich die MHP Arena mit den neuen Eindrücken von einem Blick auf ein Lebenswerk, in dem die Künstler nicht nur älter, sondern auch reifer geworden sind. Eine musikalische Annäherung und großartiger Abend am längsten Tag des Jahres mit „Die Nerven“ und den „Einstürzenden Neubauten“. Ein wunderbares Geschenk.
Fotos: Andreas Kull – vielen Dank für die schönen Bilder 🙂