Mittendrin und doch allein
Simon Goff & Katie Melua | Aerial Objects
(Modern Recordings/BMG)
Wenn das Zenner ruft, geht man hin. Nicht nur wegen der schillernd-verruchten Geschichte der Berliner Vergnügungsstätte – sondern vor allem auch deshalb, weil sie sich zu einem Konzertort der Superlative gemausert hat, den es eigentlich gar nicht geben dürfte: klein genug, um eine familiäre, ja: nahezu schon exklusive Atmosphäre heraufzubeschwören, in der man sich als Mitglied eines elitären Eingeschworenen-Clubs wähnen kann, groß genug, um für Major Labels und ihre Stars als ernstzunehmende Spielstätte, vor allem aber Experimentierfeld interessant zu sein.
Nicht nur durften wir hier dem Record Release von Tom Schillings Die Andere Seite beiwohnen – auch die georgisch-britische Singer/Songwriterin Katie Melua, die in Ermangelung einer treffenden Genrebezeichnung an der Schnittmenge von folkigem Flüsterpop und Smoothjazz gern mal der Sammelgattung „Adult Alternative“ zugeschlagen wird und mit dieser eingängig-beseelten Melange (wir erinnern uns an dieser Stelle gern an ihren ersten Top-Five-Hit „Nine Million Bicycles“ von 2005) durchaus im Stande ist, die Mercedes Benz Arena zu füllen, ist im Verbund mit dem in Berlin lebenden Geiger, Komponisten und Produzenten Simon Goff dem düster-romantischen Charme des Zenner verfallen, sodass sie es als Austragungsort ihrer ersten und, glaubt man der Presse-Einladung (Denn war da nicht noch Anfang August dieser gemeinsame Gig im Schloss Oranienburg?), wohl einzigen Live-Aufführung ihres gemeinsamen Projekts Aerial Objects auserkoren hat – und damit gleichzeitig einen Jahrhundertwendeballsaal von quadratischem Grundriss mit schwindelerregend hohen Wänden, der nicht nur nach einer besonderen Lichtshow, die vor allem auf die geballte Kraft der Schwärze setzt, sondern auch nach mal ätherischen, mal morbiden, immer Drone-ummantelten, kurz: nichtvondieserweltlichen Klängen nachgerade verlangt.
Also nach Sounds, die das nur sechs Titel umfassende Duo-Album, das Anfang September auch als Vinyl erschienen ist, aus jeder Rille atmet. Kein Wunder, dass beim Konzert zunächst eine gefühlte halbe Stunde lang ein leicht gespenstisches Bordun erklang, bevor die Musiker, quadrophonisch im Raum verteilt, ihre jeweilige Bühne betraten: Ein Cellist, der Wärme und Erdung gab, eine Keyboarderin, die giftige Klangkaskaden absonderte, ein Gitarrist, stoisch und durch nichts aus der Ruhe zu bringen – und auf der im Trio bespielten Frontbühne nebst ihrem Schlagzeuger Ms Melua mit ihrem klaren Timbre, das trotz deutlich fortgeschrittener Schwangerschaft von keinerlei Hormoneinfärbung getrübt war, und Mr Goff mit seiner Geige und einer ganzen Spielbatterie an Elektronika, darunter jene analoge Synthesizer, welche die Aerial Objects klanglich dominieren.
Musikalisch betreten beide Künstler mit ihrem gemeinsamen Ausflug Neuland – und genau das ist das Konzept des Albums: die Grenzen ihrer bisherigen Arbeiten hinter sich zu lassen und sich an Orte zu bewegen, die beide bislang nicht betreten haben. Dabei gehen sie von ihrer direkten Umgebung aus, menschengemachten und natürlichen Landschaften, denen sie klanglich in experimentellen Kompositionen begegnen, um schlussendlich in beredt-philosophischen Reflexionen die Möglichkeiten von Landschaft und ihren Grenzen – Stichwort: Horizont – zu erspüren. Landscape goes Soundscape – und das gleich vom ersten Track an.
Der bereitet ein ätherisches Streicherbett für Meluas eindringliche, hier an eine weniger eigenwillige Kate Bush erinnernde Stimme, die ohne allzu lange Einstimmung mit „Tbilisi Airport“ eine nächtliche Großstadtszene kreiert, von Lichtern und Trubel, Kommen und Gehen kündet, dabei aber vor allem die individuelle Verlorenheit darin heraufbeschwört. Dabei betont die Klangästhetik diese Einsamkeit, die der Maxime „mittendrin und doch allein“ folgt, ob der Gegenüberstellung von vereinzelter Stimme und orchestraler Übermacht, einmal mehr. Kurz: ein den menschlichen Seelenkern berührendes Lied, wobei „Lied“ es nicht so ganz trifft, denn herkömmliche Songstrukturen darf man hier ebensowenig erwarten wie auf dem folgenden „It Happened“, wo die Geige halsbrecherische Sechzehntel schrubbt, was immer ein bisschen an das „Presto“ aus dem Sommer der Vier Jahreszeiten Vivaldis erinnert, ein vorwärtsgaloppierender Rhythmus, dessen Dringlichkeit von Polizeisirenengeräusch bestärkt wird, derweil ihn der Da-da-da-Refrain im Osteuropäischen verortet. [Hierzu ein kleiner Guerilla-Video-Einblick ins Konzert]
„Hotel Stamba“ wartet mit einem hallenden Pizzicato auf, das sich zur Streicherfront auswachsen soll und somit einen nervösen Untergrund für einen Choral bereithält, der als Love Song der anderen Art, eine Ode ans Leben, trotz allem, durchgeht, denn wer hätte auch gedacht, dass es too many books, too many songs, too many instruments, ja: too much life geben könnte? Too much Klangbombast macht all den modernen, Lebensmüdigkeit erzeugenden Overflow, die Überflutung mit Information, Büchern, Platten, hörbar und weckt die Sehnsucht nach den simple days mit linear television – oder noch weit davor, wie von den „Textures Of Memories“ heraufbeschworen, wo es flirrt, fließt und fliegt, nicht von dieser Welt und auch nicht aus dieser Zeit, schwingen hier doch uralte Texturen mit, deren Widerhall von Goff und Melua in ihrer Eigenschaft als Zeitreisende zu uns hinübergerettet wurde.
Der an fünfter Stelle verborgene Titeltrack zeichnet mit Sternennebel, Regenbögen und Feuerbrünsten starke Naturbilder, derweil er mit crescendo auf sein furioses Finale zusteuert. Dem hat man im Closer „Millions Of Things“ den Stecker gezogen, wird dieser doch vom warmen, minimalistischen Klang der Akustikgitarre dominiert, zu welchem Melua vordergründig sacht wiegend von lieblichen Landschaften made of seathrift and sage säuselt – einem rosa Blütenmeer, das Heimat zu bedeuten scheint, sich letzten Endes aber in einer Kontemplation über den Horizont verliert:
Can you see that line, the horizon line
Where the limit is, and can it relax you?
Or is this a space of unsettling rest
I thought if it’s the edge, going right to the edge
Will show us everything we wanna see.
Nicht nur dieser Schlussgedanke, der gleich einem offenen Akkord den Hörer auf sich selbst zurückwirft, macht Aerial Objects zur hochgradig funktionalen Musik, zum Meditationsbegleiter und Denkanreger, nicht immer schön, gern auch mal ungemütlich. Konsequent zu Ende gedacht führt die Platte – die man am allerehesten noch als „Soundscape“, „Ethereal Electronica“ oder, warum auch nicht, „Aerial Objects“ beschreiben kann – nicht nur die beiden Künstler „an Orte, an denen wir noch nie zuvor waren“ (Goff), sondern auch ihr Publikum. Eine Reise, auf die man vielleicht gerade keine Lust hat, weil der Kopf voll ist von Alltagsdingen und To-Do-Listen. Ein Ausflug, auf den man bereit sein muss, sich einzulassen. Was live in den richtigen Räumlichkeiten leichter fällt als mit der Konserve im heimischen Wohnzimmer. Einen Versuch wert ist es aber allemal.
Fotos: David J. Hotz ( Homepage: http://djhotz.com )