Musik-Tipp: HOME.S. – Esbjörn Svensson

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Nimbus des Zufrühverstorbenen

Esbjörn Svensson | HOME.S.

(ACT/Edel)

Der schwedische Pianist Esbjörn Svensson hat mit seiner 2005 während der Viaticum-Tour aufgezeichneten und 2018 posthum publizierten Trioveröffentlichung E.S.T. Live in London eine der fraglos großartigsten Platten der jüngeren Jazzgeschichte gemacht – und spätestens damit ebensolche geschrieben. Hier zeigt sich das Esbjörn Svensson Trio auf der Höhe seiner den Bandsound in den Mittelpunkt stellenden, elektro-akustischen, minimalistischverdichteten Klangkunst, die immer noch als zukunftsweisend gilt, hat sie doch die Vorstellung von einem Pianotrio bei einer genreübergreifenden Hörerschaft nachhaltig verändert.

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Wer nun aber HOME.S., das einzige Solopianoalbum des 2008 tragisch Verunglückten, aufgrund all jener Eigenschaften erwirbt, die ihm an Svenssons Trio so sehr gefallen, wird zwangsläufig enttäuscht. An den magischen Trioklang reicht die neue Veröffentlichung – der Natur ihrer Sache gemäß – in keinerlei Hinsicht heran. Zwar folgen die intimen Aufnahmen dem gewohnten „weniger ist mehr“-Prinzip des Pianisten, der seine technische Virtuosität bereitwillig dem wie mit einer Stimme sprechenden Bandklang untergeordnet hat, doch machen sie ihn durch die fehlende Begleitung auch regelrecht schutzlos. Man sieht Svensson förmlich, wie er in seinem Keller-Studio zweifelt, ob seine Fingerübungen den Ansprüchen einer Veröffentlichung auch genügten – eben ganz so, wie er es mit der Musik Beethovens oder Chopins hielt, die er gern zur Entspannung spielte, jedoch für nicht gut genug befand, um auf CD gebrannt zu werden.

Wie er es diesbezüglich mit den neun Miniaturen von HOME.S. gehalten hätte, können wir nicht sagen. Die nur wenige Wochen vor Svenssons Tod in seinem Haus in Schweden entstandenen Aufnahmen lagerten erst einmal, so will es das offizielle Narrativ, eine Dekade lang ungehört im persönlichen Archiv von Witwe Eva Svensson, bevor sich diese in der Lage fühlte, sich dem künstlerischen Nachlass ihres Mannes zu stellen. Gemeinsam mit dem E.S.T.-Tontechniker Åke Linton wagte sie sich ans Durchhören der Festplatten – ohne dass ihr auch nur im Geringsten klar gewesen wäre, dass sich hier ein komplettes, im Alleingang komponiertes, eingespieltes und aufgenommenes Soloalbum verbergen würde. Zu diesem teilen sich – allein auf den Seiten eines bekannten Online-Kaufhauses, dessen Name an einen Strom im nördlichen Südamerika erinnert – dann auch die Meinungen: „Genial“, loben die einen, „ein Stück schöner als das andere“, während die anderen zetern: „Es wird schon einen Grund haben, weswegen Esbjörn Svensson diese Aufnahmen nicht selbst veröffentlicht hat“ und über „das ziemlich belanglose Geklimper“ auf der „angeblich wiedergefundenen Festplatte“ bösartig unterstellend lästern, es klänge wie etwas, das „Frau Svensson wahrscheinlich auch selbst hingekriegt hätte – oder hat sie?“ Fakt ist, dass auf HOME.S musikalisch etwas ganz anderes passiert als das, was man von Svenssons Trioveröffentlichungen und Konzerten gewohnt ist. Und Menschen mögen nun einmal, was sie kennen.

„Alpha“ eröffnet die Platte mit etwas Zartem, Verlangsamtem, Kontemplativen, aber nie Fragilem, das gen Ende erwacht und nachgerade munter wird, nur, um sich mit „Beta“ wieder in die gedankenvolle Meditation zu versenken, die sich diesmal harmonisch einen winzigen Touch komplexer darstellt als auf dem Opener. Ab Minute 1:15 – mit Auftakt: 1:14 – präsentiert Svensson ein Thema, das rührt, bis gegen Minute 2:00 kurz eine Art verstimmter Flohwalzer aufscheint, sich dann alles miteinander verspinnt und zum epischen Überflug gerät, derweil das Langsame und Leise nie ganz verblasst und mit Auslauten des Stückes eher noch einmal mehr betont wird.

Die geschlossenen Statement-Akkorde von „Gamma“ tasten sich leise heran, stecken den Kopf mal aus diesem Fenster, schauen mal um jene Ecke, bis sich eine glasklare Melodie herauskristallisiert, die das anscheinend Zufällige dieser Meditation Lügen straft. Alsbald tänzelt aber auch sie scheint’s absichtslos durch die Räumlichkeiten, um mal hier, mal da aufzuscheinen, abgebunden ab mit einer ordentlichen Portion Barjazz, der sich bald sogar in die Südstaatenspelunke vorwagt, und, eignete ihm nicht diese der europäischen Klassik entlehnte Kunstmusik-Coda, dort auch täuschend authentisch verweilen würde. Das mit einem unkomfortabel reibenden Intervall eröffnende „Delta“ irrlichtert trotz seiner – erstmals auf diesem Album deutlich spürbaren – Bässe wie die Farbtupfer auf impressionistischen Gemälden und evoziert damit Parallelen zur Musik von Debussy & Co., derweil „Epsilon“ beginnt, als setze es etwas fort, quasi mitten in der Phrase, um diese dann wasserfallgleich zu beantworten, was es zur perfekten Personifikation von jemandem, der einen nicht zu Worte kommen lässt, macht: Alle potenziellen Pausen sind gefüllt, bis der zwar unaufgeregte, aber eben sehr kontinuierliche Wortstrom mit einem Schulterzucken endet, als hätte der Redeschwall keinen Widerhall gefunden und würde jetzt denken, hm, na dann eben nicht.

Die poetische Mondscheinsonate „Zeta“ mit ihren punktgenau perlenden Dreierketten wird abgelöst von „Eta“, dem bislang komplexesten Stück, das den Boden der – auf Basis kompositorischer Skizzen – aus dem Moment geborenen Meditation verlässt und stattdessen einem nachgerade symphonischen Aufbau zu folgen scheint, in welchem ouvertürengleich die Vorschau auf eine größere Erzählung steckt, deren einzelne Teile sich in ihrer Stimmung allesamt komplett voneinander unterscheiden, während „Theta“ mit seinem präzise tickenden Uhrwerk etwas Barockes und damit Mathematisch-Geometrisches eignet. Erinnerten die Stücke auf HOME.S. bislang eher an Flüssiges, Fließendes, mal in Form eines kleinen Stroms, mal perlend wie ein in der Sonne glitzernder Gebirgsbach, fließt hier rein gar nichts: Es tickt. Ein metronomischer Puls, dem – aller Verspieltheiten der rechten Hand zum Trotz – immer das mitmarschierende Memento mori ablaufender Zeit innewohnt, kongenial symbolisiert vom abschließenden Ritadando.

Mit barocker, wenn nicht gar rokokoischer Munterkeit beschließt das neckende „Iota“ – das an entsprechende Pianoetüden erinnern würde, mischte sich nicht der eine oder andere Ton ein, der im Kontrapunktischen ebensowenig zu suchen hat wie die en miniature vollzogenen Ausflüge ins Epische, die inklusive Dauertrillern einen gewissen Freiraum schaffen, bevor wieder die Etüdenstruktur übernimmt – auf nur zweieinhalb Minuten hochverdichteter Länge den Reigen eines Albums, von dem sich nicht mit letzter Sicherheit sagen lässt, ob man es wirklich in dieser Form hätte veröffentlichen müssen, kurz: ob seine aktuelle feuilletonistische Relevanz tatsächlich der Musik oder lediglich dem Nimbus des Zufrühverstorbenen zu verdanken ist.

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Victoriah Szirmai hört Musik und schreibt darüber. Sie studierte Musikwissenschaften mit Schwerpunkt Musiksoziologie und Rock/Pop/Jazz-Forschung sowie Philosophie und Hungarologie an der Humboldt Universität zu Berlin; außerdem Fachjournalismus mit Schwerpunkt Musikjournalismus am Deutschen Journalistenkolleg. Hier gewann sie mit ihrem Essay-Manifest „Zeit zum Hören – Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus" den ersten Preis des Schreibewettbewerbs „Journalistische Trendthemen". Szirmai schrieb sieben Jahre lang für das HiFi-Online-Magazin fairaudio, außerdem für die Jazzzeitschrift Jazz thing und das (ehemalige) Berliner Stadtmagazin zitty. Aktuell arbeitet sie für den Berliner tip und für Jazzthetik, das Magazin für Jazz und Anderes, wo in ihrer mit der Nachtseite der Musik flirtenden Kolumne „Szirmais Fermaten" ganz viel Anderes und vor allem Leonardcoheneskes stattfindet. Ein weiterer Interessenschwerpunkt ist ästhetische Objektivität.

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