Musik-Tipp: Flash Pig – Le Plus Longtemps Possible

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Angenehm angeregt

Flash Pig | Le Plus Longtemps Possible

(French Keys/Broken Silence)

„Kompromisslosen Free Jazz aus Paris“ kündigt die E-Mail an, die Ende März in meine Inbox flattert, und spricht weiter von einer „kühnen Mischung aus arrangierten Popsongs und introspektiven Eigenkompositionen“, unter ersteren Lana Del Reys „Video Games“. Klar, dass ich da reinhören muss!

Cover-Flash-Pig-Le-Plus-Longtemps-Possible

Was dann aber aus den Boxen tönt, ist mitnichten eine lediglich dem Intellektuellen zugängliche Mixtur aus an der Grenze zu Atonalem und so manches Mal auch Arhythmischem Improvisierten, verwandt höchstens noch mit Post-Punkt und No Wave. Nein, die „Video Games“ bewegen sich nah am Original, das entkitscht (!) und entkernt wurde – und kommen, nicht zuletzt ob des lufthauchreichen Tenorsaxophons, das hier das Melodieinstrument gibt, so zart, so sacht, so bittersüß daher, dass einem ganz weh ums Gemüt wird. Solch ein Cover ist zuletzt nur Trompeter Richard Koch mit The Cures „Lullaby“ gelungen, das es als digitale Zugabe zu seiner Wald-Vinyl gibt.

Den Weg ins Kritikerherz hat das französische Quartett Flash Pig (für dessen Namen übrigens eine schweinchenförmige Taschenlampe Pate gestanden hat), besetzt mit Adrien Sanchez am Saxophon, Maxime Sanchez am Klavier, Florent Nisse am Kontrabass und Gautier Garrigue am Schlagzeug, jedenfalls spielend gefunden. Bleibt nur noch abzuwarten, was es auf den zehn anderen Stücken seines vierten Albums hören lässt. Gegründet wurde die Band von den Sanchez-Zwillinge und Schlagwerker Garrigue übrigens schon 2005 – damals noch als Trio. Während des Studiums gesellte sich Bassist Nisse hinzu und der Rest ist, wie man so schön sagt, Geschichte: 2009 gab es den ersten Preis beim Siófok International Jazz Contest in Ungarn, 2010 den zweiten bei den Trophées du Sunside in Paris, 2014 folgte das von Kritikern hochgelobte Debüt Remain Still, 2016 das selbstbetitelte Flash Pig und 2019 Year of the Pig. Die verhältnismäßig lange Pause bis zur Veröffentlichung von Le Plus Longtemps Possible ist, wie bei allen anderen auch, der Pandemie geschuldet. Doch das Warten hat sich, wie eben nicht bei allen anderen auch, gelohnt.

Mit dem Opener „Get Busy“ beansprucht das Viertwerk gleich mit den ersten Tönen des nachdrücklichen Klaviers volle Höreraufmerksamkeit, bevor es in einen rollenden, episch funkelnden, sofort zupackenden Quartettgroove fällt, dessen soghafteste Momente nur noch von dem in Repetition sichinshirnfräsenden Saxophonmotiv übertroffen werden. Ein Auftakt, ein Statement! Wer die Latte so hoch legt, muss sich natürlich auch künftig daran messen lassen. Kein Problem für Flash Pig, die mit dem wilddurcheinanderwirbelnden „Spits“ das Leben mit all seinen ungeplanten, aber letzten Endes schönen Augenblicken derart selbstverausgabend zu zelebrieren verstehen, dass eine Pause bitter Not tut. Und nun höre ich erstmals die „Video Games“ eingebettet in die Albumdramaturgie. Perfekt geplant – um nicht zu sagen „Exactly As Planned“, denn so heißt Titel Nummer vier.

Der beamt den entrückten Hörer mit behutsamem Beckenklang wieder auf den Boden der Tatsachen, wo ein Stück Mitternachtsjazz/Clubjazz/Jazz-Jazz (oder welche Bezeichnung Sie persönlich für diese Art von Klängen auch immer bevorzugen mögen) auf ihn wartet und nahezu nahtlos übergeht in den sich vogelfrei gerierenden Einminüter „Randolph“, der seinerseits Auftakt zum nun wirklich nahtlos anschließenden Titeltrack ist, welcher mit herrlichsten lyrischen Passagen, die im Titelverlauf eine zunehmende Dringlichkeit entfalten, besticht – und einmal mehr beweist, dass wahre Schönheit nur aus dem Chaos geboren werden kann.

Flash-Pig-Gruppenfoto

Gruppenfoto: Flash Pig

Das hat jetzt zwar nicht ob seiner Wildheit, aber sehr wegen seiner Intensität mitgenommen. Dramaturgisch klug folgt die Ballade „La Traversée“, die dem Hörer sowohl Ruhe bringt als auch fast gleichzeitig seinen Wunsch weckt, ganz nach vorn auf die Stuhlkante zu rutschen und aufmerksamst zu lauschen, damit ihm auch ja nichts entgeht. Ballade, so lernen wir, muss mitnichten langweilig sein! Auch auf dem spiralenden, spiralierenden, spiralisierenden – Sie kriegen die Idee! – „QG“ passiert einiges, aber mehr im Vordergrund, straighter, um nicht zu sagen: sehr in your face, was eine Energie zeitigt, die den ganzen Körper erfasst, den Geist jedoch wohlig (und wohlverdient) Pause machen lässt. Im Grunde ein klanggewordenes Feierabendbier – vorausgesetzt, wir reden hier von belgischem Rochefort mit elf Umdrehungen (oder zumindest von Tripel mit 9,5)!

Da schadet mit „Voyageur“ auch eine weitere Ballade nicht, die tatsächlich formtypisch schwingt, ja: schunkelt, ansonsten aber im Konzert ob einer seltsamen Behäbigkeit noch am ehesten dazu angetan wäre, mal in den Örtlichkeiten zu verschwinden oder für Getränkenachschub zu sorgen, wobei Letzteres Ersteres naturgemäß bedingt. Gut, wenn man es rechtzeitig zu den „Babies“ zurückgeschafft hat, denn hier kann von Behäbigkeit keine Rede mehr sein! Dafür errichtet ein nervöser, eventuell lateinamerikanischen Odd Meters entlehnter Rhythmus im Geheimen eine weitere, tiefere Schicht unter einem konventionelleren Kopfnicker-Groove, was spannend ist, aber auch, seien wir ehrlich: anstrengend, ohne dass sich genau sagen ließe, weshalb eigentlich.

Der Closer „Elea“, dessen Luftdurchlässigkeit an eine „Video Games“-Reprise erinnert, versöhnt mit dem allzu Unbehaglichen – und gerät dank muksmäuschenstiller Parts, die mit angehaltenem Atem verfolgen lassen, was das Schlagzeug als nächstes vorhat, zudem zu einer weiteren Lehrstunde in Sachen physischer Entspannung bei gleichzeitiger Maximalaktivierung der Aufmerksamkeit. Im Grunde also jenen Zustand, den sich Meditierende herbeisehnen. Und so geht man aus dem Album dann auch nicht überdreht, nicht gelangweilt, sondern angenehm angeregt raus. Mehr kann man von Musik nun wirklich nicht verlangen. Von allem anderen übrigens auch nicht.

About Author

Victoriah Szirmai hört Musik und schreibt darüber. Sie studierte Musikwissenschaften mit Schwerpunkt Musiksoziologie und Rock/Pop/Jazz-Forschung sowie Philosophie und Hungarologie an der Humboldt Universität zu Berlin; außerdem Fachjournalismus mit Schwerpunkt Musikjournalismus am Deutschen Journalistenkolleg. Hier gewann sie mit ihrem Essay-Manifest „Zeit zum Hören – Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus" den ersten Preis des Schreibewettbewerbs „Journalistische Trendthemen". Szirmai schrieb sieben Jahre lang für das HiFi-Online-Magazin fairaudio, außerdem für die Jazzzeitschrift Jazz thing und das (ehemalige) Berliner Stadtmagazin zitty. Aktuell arbeitet sie für den Berliner tip und für Jazzthetik, das Magazin für Jazz und Anderes, wo in ihrer mit der Nachtseite der Musik flirtenden Kolumne „Szirmais Fermaten" ganz viel Anderes und vor allem Leonardcoheneskes stattfindet. Ein weiterer Interessenschwerpunkt ist ästhetische Objektivität.

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