Last-Minute-Geschenktipp: Amanda Petrusich – Um keinen Preis verkaufen

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Amanda Petrusich | Um keinen Preis verkaufen

Last-Minute-Geschenktipp

Victoriah Szirmai

„Die Jagd nach raren Tonträgern bewegt sich auf dem schmalen Grat zwischen Euphorie und Wahnsinn. Und vermutlich haben sowieso alle, die sammeln, einen Knall.“, schreibt der deutsche (Musik-)Journalist Christoph Dallach im Vorwort zu Um keinen Preis verkaufen. Die wilde Jagd nach den rarsten 78ern und die Suche nach der Seele Amerikas von Amanda Petrusich, ihres Zeichens Musikjournalistin bei The New Yorker, The New York Times, Spin, Pitchfork etc. Dallach, selbst Autor von Future Sounds. Wie ein paar Krautrocker die Popwelt revolutionierten, muss es wissen. Er selbst hat wegen eines unvorhergesehenen Abstechers in einen Plattenladen schon mal einen Flug verpasst, was wiederum ich, die ich wegen einer Akkordanalyse und dem damit verbundenen Griff zum Lautstärkeregler des Autoradios gleich zwei Fahrzeuge auf einmal in Schrott verwandelt habe, bestens nachvollziehen kann. Musiknerds, so scheint’s, leben gefährlich.

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Dessenungeachtet lässt Petrusich ihre Leser mit leichter Hand eintauchen in eine Welt, die jene des herkömmlichen Vinylsammlers in Sachen Exklusivität und Verschrobenheit um ein Vielfaches übertrifft: jene der Sammler von Schellack-Platten – einer endlichen Ressource, da diese im Gegensatz zum Vinyl nicht mehr produziert werden, zudem dermaßen fragil sind, dass sie die Zeiten nur in wenigen Fällen überdauern, und die frühen Grammophone nicht zuletzt als wahre „Plattenmöder“ gelten. Im Grunde ist es ausschließlich fanatischen Sammlern zu verdanken, dass die auf Schellack gebannten Anfänge US-amerikanischer Popmusik (und damit jene der westlichen Populärkultur generell) erhalten geblieben sind. Auch heute erfreuen sich die zunehmend rarer werdenden Schellacks einer exklusiven Anhängerschaft, darunter nicht nur Vintage-DJs, sondern auch passionierte Musiker wie Tom Waits, der schon mal Singles veröffentlicht, die nur mit 78 Umdrehungen abzuspielen sind.

Als mindestens fanatisch lässt sich auch der „freundliche kleine Vergil“ Harry Smith beschreiben, Herausgeber der mittlerweile ebenso berühmten wie berüchtigten The Anthology of American Folk Music, die er mit einer Auswahl seiner auf Schellack ersammelten Raritäten bestückte, weshalb die bis dato vergessenen Stücke als „historische Bombe“ gelten, die „Peter Paul and Mary scharf gemacht“ und im Allgemeinen für das Folk-Revival der Fünfziger- und Sechziger Jahre als Katalysator gewirkt hätten. Nachdem Smith eine steile Alkoholikerkarriere hingelegt und erst „mittels eines ehrgeizigen Speiseplans aus Bienenpollen, rohen Hamburgern, Eiskrem, Pulverkaffee und Seniorenbrei“ zur früheren Form zurückgefunden hatte, konnte er dabei beobachtet werden, wie er „mit Verve Alltagsgeräusche sammelte“. Besucher hielt er mittels eines Bitte nicht stören: Ich schlafe oder arbeite-Schildes an seiner Tür fern. Sollte es doch einmal jemandem gelungen sein, zu ihm vorzudringen und gar mit ihm Musik zu hören, galt das Gebot absoluter Stille. „Kein Wort. Wirklich kein einziges, bis die Platte abgespielt war.“ Smith, auch als ebenso großzügiger wie nachlässiger Selbstmedikator bekannt, lebte zum Schluss von einer jährlichen Spende Jerry Garcias, der die Anthology zur wichtigsten Quelle seines Blues-Verständnisses erklärte und Grateful Dead regelmäßig Stücke der Sammlung spielen ließ. Wo Smith‘ Sammlung nach seinem seltsam prosaischen Tod (er soll gesagt haben: Ich sterbe, woraufhin er Blut spuckte und tot umfiel) gelandet ist, weiß man bis heute nicht genau.

Mal anekdotisch, mal hochamüsant, dabei aber immer mit viel Sympathie für ihre und Respekt vor ihren Protagonisten erzählt Petrusich in der Art eines musikalischen Road Movies von ihren Begegnungen mit der scheuen Spezies der Schellackplattensammler – und zeichnet dabei ganz en passant eine Kulturgeschichte der Vereinigten Staaten vom Amerika vom Anfang bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts. Soundtrack ihrer Identitätsbestimmung waren vor allem Jazz und Blues, die einen ureigenen nordamerikanischen Sound schufen, welcher weltweit bewundert und nachgeahmt wurde. So amerikanisch wie möglich zu klingen war lange Zeit das erklärte Ziel vieler internationaler Musiker.

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Amanda Petrusich (Foto-Credit: Bret Stetka)

Leicht war es für Petrusich nicht, die Sammler zum Sprechen zu bewegen – nicht nur, weil sie sich als (jüngere) Frau unter (zumeist älteren) Männern bewegte, sondern vor allem, weil Jäger im Allgemeinen nur ungern die Geheimnisse ihrer Jagdgründe preisgeben. Schellackplattenjäger machen da keine Ausnahme. Kein Wunder, dass ihre mühsam ersammelten Schätze als unantastbar gelten und sich echte Sammler eins definitiv nicht vorstellen können: Sie zu verkaufen. Und zwar um keinen Preis.

Erhältlich ist Petrusichs im Verlag Matthes & Seitz Berlin erschienenes Buch in allen gut sortierten Buchhandlungen oder direkt beim Verlag unter https://www.matthes-seitz-berlin.de/buch/um-keinen-preis-verkaufen.html

Zu einer Leseprobe geht es hier entlang: https://www.matthes-seitz-berlin.de/fs/addons/Leseproben/msb_petrusich_umkeinenpreisverkaufen_leseprobe.pdf

About Author

Victoriah Szirmai hört Musik und schreibt darüber. Sie studierte Musikwissenschaften mit Schwerpunkt Musiksoziologie und Rock/Pop/Jazz-Forschung sowie Philosophie und Hungarologie an der Humboldt Universität zu Berlin; außerdem Fachjournalismus mit Schwerpunkt Musikjournalismus am Deutschen Journalistenkolleg. Hier gewann sie mit ihrem Essay-Manifest „Zeit zum Hören – Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus" den ersten Preis des Schreibewettbewerbs „Journalistische Trendthemen". Szirmai schrieb sieben Jahre lang für das HiFi-Online-Magazin fairaudio, außerdem für die Jazzzeitschrift Jazz thing und das (ehemalige) Berliner Stadtmagazin zitty. Aktuell arbeitet sie für den Berliner tip und für Jazzthetik, das Magazin für Jazz und Anderes, wo in ihrer mit der Nachtseite der Musik flirtenden Kolumne „Szirmais Fermaten" ganz viel Anderes und vor allem Leonardcoheneskes stattfindet. Ein weiterer Interessenschwerpunkt ist ästhetische Objektivität.

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