Am Freitag, den 28.02.2020, war es wieder soweit. Ein Geburtstagsgeschenk stand zur Einlösung an. Das Geschenk hat acht Monate – lang erwartet – in meinen Schränken geschlummert: Eine Eintrittskarte zum Deichkind-Konzert in der Hanns-Martin-Schleyer Halle in Stuttgart! Ich war reichlich aufgeregt, da ich zum Einen nie auf einem Deichkind-Konzert war, zum Anderen kenne ich mindestens einen Menschen, der mich unfassbar darum beneidet hat. So eilte der Ruf dem Konzert bereits weit voraus.
Bei uns – wir waren zu viert – bestand der gesteigerte Ehrgeiz, in den Innenraum vorne an der Bühne zu gelangen. Um das nötige Bändchen zu ergattern, fanden wir uns früh am Abend am Eingang, beziehungsweise vor dem Gitter der Sicherheitskontrolle ein.
Falls jemand diesen Bericht später lesen sollte: Der 28.02.2020 fällt in das Zeitalter von SARS-CoV-2, oder landläufig: des Corona-Virus. Nachdem am gleichen Tag der Genfer Automobil-Salon abgesagt wurde, der in der folgenden Woche die Tore öffnen sollte, machte sich auch in deutschen Landen eine gewisse Nervosität breit. Auch die Sorge, das Großveranstaltungen kurzfristig abgesagt werden könnten.
Das Deichkind-Konzert fand zumindest schonmal statt. So fragten wir uns dann an der Sicherheitskontrolle, ob an diesem Tage die Gefahr tatsächlich in den Taschen der Besucher lauerte, oder in den Schleimhäuten der oberen Atemwege. Folgten jetzt Temperatur-Messungen statt Leibesvisitation? Wir entschlossen uns besonnen zu bleiben und gelassen einzutreten in die Welt der Deichkinder.
Wie 10.000 andere auch, die den Weg in die fast ausverkaufte Schleyer-Halle fanden. Dank unseres frühen Erscheinens konnten wir uns ein Bändchen für die vorderen Linien sichern. Die zwei Stunden bis zum Konzertbeginn überbrückten Hip-Hop-Videos, die zum Teil um 30 Jahre zurückgriffen. Die Laune stieg von Minute zu Minute. Bis die Uhr Viertelnachacht schlug.
Der Beginn des Konzertes war fulminant: Ein Intro-Video, das auf den weißen Bühnenvorhang projiziert wurde. Der komplett nackte Schauspieler Lars Eidinger, der auch schon in vier Deichkind-Videos zu sehen war, brachte die Fans filmisch in erste Wallungen, als er von einem Kran an den Füßen gepackt in einen Bottich mit blauer Farbe getunkt und als menschlicher Pinsel über den Boden geschleift wurde. Dazu die Musik „Shadow“ vom niederländischen Cellisten Ernst Reijseger. Großartig. Ein bisschen Kunst, ein bisschen Provokation. Deichkind.
Obwohl Lars Eidinger die aktuellen Deichkind-Videos deutlich mitgeprägt hat, war er bei der Show persönlich nicht auf der Bühne vertreten. Dafür hatte sein Konterfei als lebensgroßer Pappaufsteller aus dem „Richtig gutes Zeug“ Video seinen Auftritt. Vom neuen Deichkind Album war unter anderem auch „Wer sagt denn das?“ mit am Start. Den echten Fan erkannte der Laie dann auch am passenden „Wer sagt denn das?“ Dress.
Das Deichkind Konzert war schon ein Konzert für Deichkind Fans. Für Wiederholungstäter. Die Besucher hatten richtig Bock auf das Konzert. Die meisten wussten also wohl auch, was geboten sein würde. Für mich war das alles Neuland. Ich klammerte mich an bekannte Größen wie „Illegale Fans“, der Deichkind-Redewendung „Leider Geil“ oder der Hymne des abhängig Beschäftigten: „Bück Dich hoch“. Fantastisch, das mal live zu hören mit tausenden Anderen. Das Publikum nahm kontinuierlich Fahrt auf.
Die Bühnenbilder und die Kostüme der Akteure wechselten regelmäßig. Eine bunte, abgefahrene Sache. Mal clever durchdacht, mal hemdsärmlig improvisiert wirkend. Fast trashig. Für das Bühnenbild und die Regie zeichnet sich Deichkind selbst verantwortlich. Dadurch entstand – zumindest bei mir – das Gefühl von 100 % Authentizität. Deichkind bestellt. Deichkind geliefert. Ein fairer Deal.
Dazu gehören natürlich auch die Tetraeder-Hüte und der Neon-Look. Deichkind besteht seit 2018 übrigens aus drei Mitgliedern, nachdem sich Ferris MC überraschend verabschiedet hat: Philipp „Kryptik Joe“ Grütering, Henning „DJ Phono“ Besser und Sebastian „Porky“ Dürre. Die Bühnen-Crew wurde um weitere Akteure ergänzt, die eine beeindruckende Show hinlegten. Klasse.
Als Beitrag gegen den Rechtsruck in der Gesellschaft ließ sich Deichkind im Bierfass durchs Publikum ziehen. Eine Fahne schwenkend mit der einfachen wie auch eindeutigen Botschaft: „Kein Bier für Nazis“. Kein Bier – im Kontext eines Deichkind Konzerts eine harte Ansage. Nicht ohne musikalische Kracher wie „1.000 Jahre Bier“ (in dem es nur vordergründig um den Gerstensaft geht) und „Bude voll people“ zum Besten zu geben. Die Schleyer Halle brodelte. Party! Da durfte auch mal ein (voller) Becher Bier fliegen. In Bezug auf die Flugbahn hatte es einen taktischen Vorteil, dass wir vorne hinten und nicht vorne vorne standen 😉
Deichkind macht in ihren Songs und ihren Shows etwas Besonderes: Sie weben eindeutig gesellschaftskritische, intelligent und witzig verpackte Aussagen („Bück Dich hoch“, „Richtig gutes Zeug“, „Wer sagt denn das?“ etc.) in Party-Stimmung und bierselige Laune ein. Abfeiern bis es nicht mehr geht. Aber der tiefere Gedanke ist schon großartig. Irgendwann sickert die Kritik der Texte in die Köpfe ein und regt zum Nachdenken an. Und wenn es nur ein kleiner Funke ist. Das schätze ich an Deichkind.
Aber was ist schon ein Deichkind-Konzert ohne Remmidemmi. Zum Abschluss gab’s die Runde im Schlauchboot – hier war es wohl eher ein ganzer aufblasbarer Pool – über den Köpfen der Fans. Mit ordentlich Federn – und ordentlich „Remmidemmi“. Nach über zwei Stunden ein fulminantes Finale eines fantastischen Konzerts. Die Fans waren aus dem Häuschen und die Deichkinder hatten wohl auch einen spaßigen Abend in Stuttgart.
Schlussszene: Die Akteure standen auf der Bühne wie nach einer Theateraufführung und ließen sich vom Publikum feiern. Nichts anderes war dieses Konzert für mich: Ein großes Deichkind-Spektakel mit fettem Hip-Hop, ausgelassener Party und einem Happen Kultur. Es wirkte auf mich ein bisschen wie eine Schultheater-Aufführung, bei denen die Pennäler mal richtig die Sau raus gelassen haben: Nehmt dies! Mein zusammenfassendes persönliches Urteil: Leider geil.
Gute Nacht und danke für den schönen Abend.