Musik-Tipp: Someone Talked – Uli Kempendorff’s FIELD

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Klangflaneure

Uli Kempendorff’s FIELD | Someone Talked

(enja/edel/kontor)

Der 1981 in Berlin geborene Saxophonist Uli Kempendorff ist in der Berliner Jazzszene – und weit darüber hinaus – schon längst kein Unbekannter mehr: Ob er mit Kalle Kalima spielt, mit Wanja Slavin, mit Jimi Tenor oder Rolf Kühn, ob man ihn auf Seeeds Music Monks (2004) hört oder auf den Platten von Yellow Bird – sein Sound gehört einfach zu dieser Stadt. Nach Let Me Go with You (2012) und Heal the Rich (2016) ist Someone Talked die dritte Veröffentlichung von Kempendorffs Quartett FIELD – das 2021 in neuer Besetzung mit Christopher Dell am Vibraphon, Peter Bruun am Schlagzeug und Jonas Westergaard am Kontrabass aufwartet. Ganz neu sind sich die vier indessen nicht, haben sie in dieser Formation doch schon seit 2018 gelegentlich das eine oder andere Konzert gegeben.

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Der ob der Neuzugänge Dell und Bruun veränderte Bandsound ermöglicht FIELD ein sensibles Aufeinanderhören und Miteinanderagieren, das bereits im Opener „Everything“ die Platte in a nutshell vorwegnimmt, wenn ein rumpelig-zwingender Beat auf einen filigran sich vortastenden Kontrabass trifft, bis ein munter glockendes Vibraphon dazustößt und man zusammen dem Saxophon einen Spaziergang nach Manier des inspirierten Müßiggängers ermöglicht, indem es, immer in Bewegung, hier die Blume am Wegesrand schauen, da für einen Schnack mit einem Passanten pausieren, dort hinüber flanieren darf, dabei viel zu erzählen hat, doch genauso gut zuhören kann, kurzum: ein Flaneur, dessen Gesellschaft sich jeder passionierte Spaziergänger nur wünschen kann.

Auch auf „Open Up“, das swingt, ohne Swing zu sein, dabei durchaus schon mal alarmiert, findet sie sich wieder, diese stetige Bewegung, diese Neugier nach allem, was um einen herum passiert, gegossen in einen Modern-Jazz-Sound ohne jegliche Ausflüge ins Hipsterige. Man will nicht auf Teufelkommraus angesagt sein – man will einfach Musik machen. „Pm & Cc“ erinnert an jene Situation im Theater, die mit dem dritten Gong eingeläutet wird, wenn alle Platz genommen haben, die Saalbeleuchtung erlischt und man mit Spannung erwartet, was sich wohl hinter dem aufgleitenden Vorhang verbergen mag. Und da wird dann Märchenhaftes, wenn nicht gar Surreales geboten. Den Zauber vertreibt „Dresden“, das zum Mitmachen herausfordert – und wenn es lediglich das dezente, doch nicht zu unterdrückende Wippen der Fußspitze in Brogue und Stiletto ist. Irgendwo in der weiten Wunderwelt des Internet gibt es dieses Video einer amerikanischen Familie, wo die kleinen Töchter hinten im Auto perfekt Coltranes Schleifen Ton für Ton mitsingen, derweil der fahrende Vater, der ihnen das offenbar beigebracht hat, zufrieden grinst. Warum nur erinnert mich das hier daran?

Das ist dann auch die große Gabe dieser Platte: Ihr gelingt es, das individuelle „Kopfkino“ des Zuhörers zu starten – nicht erst mit dem gleichnamigen Track, der als fünfter von insgesamt sieben anzutreffen ist, sondern seit Anbeginn. Und dann wird’s mystisch. Beim Titel „Argh“ hätte ich jetzt eher einen tongewordenen traffic jam erwartet, wo alle hupen, einer schreit, Bremsen quietschen, Blaulicht naht – einen klanglichen Totalschaden gewissermaßen, doch ist der Track, der wie alle übrigen Kempendorffs eigener Feder entspringt, das genaue Gegenteil, angetan eher zur Meditation denn zu Verkehrskatastrophe. Nicht weniger kontemplativ beendet die „Pm & Cc“-Reprise die Platte. Hier ist es vor allem Christopher Dells Vibraphon, das den Hörer matschig spielt im Sonne von müde, platt, durchmeditiert, transformiert, hypnotisiert, sediert. Komplettes Knock-out.

Vom gemächlichen Spaziergang über die wilde Verfolgungsjagd zur schlaftrunkenen Trance, von hoch agil bis fast komatös – Kempendorffs FIELD versteht sich auf die menschlichen Aggregatzustände, begründet in einem Zusammenspiel, dessen Reiz, folgt man dem Bandleader, „in dem hyper-wachen Zustand [liegt], in dem wir versuchen, einander zu folgen – manchmal wie bei einem Katz-und-Maus-Spiel, manchmal wie ein Spaziergang Seite an Seite. Dazu gehört die Fülle an Ton- und Klanginformationen, vor allem vom Vibraphon. Für mich ist sie etwas positiv Überforderndes, ein Angebot verschiedener simultaner Hörwege durch die Musik.“

About Author

Victoriah Szirmai hört Musik und schreibt darüber. Sie studierte Musikwissenschaften mit Schwerpunkt Musiksoziologie und Rock/Pop/Jazz-Forschung sowie Philosophie und Hungarologie an der Humboldt Universität zu Berlin; außerdem Fachjournalismus mit Schwerpunkt Musikjournalismus am Deutschen Journalistenkolleg. Hier gewann sie mit ihrem Essay-Manifest „Zeit zum Hören – Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus" den ersten Preis des Schreibewettbewerbs „Journalistische Trendthemen". Szirmai schrieb sieben Jahre lang für das HiFi-Online-Magazin fairaudio, außerdem für die Jazzzeitschrift Jazz thing und das (ehemalige) Berliner Stadtmagazin zitty. Aktuell arbeitet sie für den Berliner tip und für Jazzthetik, das Magazin für Jazz und Anderes, wo in ihrer mit der Nachtseite der Musik flirtenden Kolumne „Szirmais Fermaten" ganz viel Anderes und vor allem Leonardcoheneskes stattfindet. Ein weiterer Interessenschwerpunkt ist ästhetische Objektivität.

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