Musik-Tipp: EYEYE – Lykke Li

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’ne halbe Stunde Lebensflucht

Lykke Li | Eyeye

(PIAS/Rough Trade)

Das fünfte Album der als Li Lykke Timotej Svensson Zachrisson geborenen Schwedin folgt einem so einfachen wie dogmatischen Konzept: keine digitalen Instrumente, keine Kopfhörer, keine Tempohaltehilfe-Clicktracks, dafür aber ein von Hand gehaltenes 70-Dollar-Schlagzeugmikrofon, mit dem der Gesang aufgenommen wurde. Kein Wunder, dass das acht Stücke umfassende Eyeye, deren Spielzeit von 2:27 bis 7:03 Minuten reicht, so charmant handgemacht, ja: rührend rumpelig rüberkommt wie das LoFi-Demo aus dem Mädchenzimmer des nächsten ätherischen Songwriterfräulenwunders, dessen Motto So Sad So Sexy (übrigens der Titel von Lykke Lis letztem Album aus dem Jahr 2018) alle Sounds infiltriert.

cover-Lykke-Li-EYEYE

Und tatsächlich wurde Eyeye, das bislang intimste Projekt der dem tiefen Griff in die Elektronikkiste ansonsten durchaus nicht Abholden, in Lis Schlafzimmer in Los Angeles aufgenommen, wo es dieses Changieren zwischen sinnlich und depressiv aufgesogen haben dürfte, das ihm zum Charakteristikum gereichen soll, geben doch schon die Eröffnungszeilen There’s no hotel/No cigarettes/And you’re still in love/With someone else die diesbezügliche Programmatik vor. Die gehören zur quietschenden Ouvertüre „No Hotel“, die mit ihren maßlos in den Vordergrund gemixten Vocals ob ihrer Direktheit nachgerade erschreckt, derweil die schockierende Intimität mit dem grillenzirpenden „You Don’t Go“, bei dem man jeden einzelnen Finger über den Gitarrenhals rutschen hört, zur Hochform aufläuft.

Das elegisch-dreampoppige „Highway To Your Heart” ist eine einzige Ode an die Vergeblichkeit, wo Regen und Einsamkeit nur so wuchern, die ihre Steigerung – was sowohl das Elegische als auch das Vergebliche anbelangt – nur in „Happy Hurts“ findet, wo das lyrische Du seinen Weg fort vom lyrischen Ich, hin zur Nebenbuhlerin nimmt, nachgerade lakonisch kommentiert mit Drive away/Back to her. Reisende soll man nicht aufhalten. Traurig sein darf man dennoch. Und dieser Stimmung ein „Carousel“ besteigen sowieso. Wer auch immer schon einmal spätabends allein Kettenkarussell gefahren ist, weiß um das Gefühl der sich in einer bunten Menge verstärkenden Einsamkeit, und manchmal muss eine Emotion eskalieren, bevor sie heilen kann.

Verdrängen ist natürlich auch immer eine Option. Und wo lässt sich das herrlicher praktizieren als im „5D“-Kopfkino, diesem klanggewordener Tagtraum mit nicht weniger traumhaftem Melodiebogen. Der Inhalt ist schnell erzählt: Das lyrische Ich verstrickt sich als geübte Kopfcineastin schnell in der Fantasie, während es in der Realität on my own erwacht, denn es ist ja „Over“, so der Titel des folgenden, als einziger mit wahrnehmbarem Rhythmus ausgestatteten Tracks, der – wie auch der Albumrest bis auf Opener und Closer – einen stark in Watte gepackten, durch Milchglas betrachteten und dadurch seltsam unwirklichen Eindruck hinterlässt, der sich noch potenziert durch die Unmassen an Hall, die auf der Stimme liegen.

Erst der Closer „ü&i“ erschreckt wieder mit dieser direkten In-your-face-Stimme, die daran zweifeln lässt, ob diese ganze Einsamkeit und Fragilität wirklich echt ist oder ob hier nicht vielmehr – bewusst oder unbewusst – mit einer Rolle kokettiert wird, gegen die man sich gleichzeitig auflehnt, denn this can’t be the final line. Und das trifft auch auf die Platte zu, die mit zweiminütigem Hidden-Track-Geraschel, woraus sich eine reprisenartige Beschwörung an die Zweisamkeit erhebt, endet.

Im Grunde haben wir es hier mit dreiunddreißig Minuten doppelter Realitätsflucht zu tun: Das einsame Ich gibt sich dem Tagtraum von Liebe hin, der Fantasie und der romantischen Obsession, was – nicht nur unter dem Eindruck frischen Liebeskummers, den diese Platte um- und einkreist, sondern generell in diesen Zeiten – als Kompensations- und damit geistige Gesunderhaltungsstrategie sicherlich niemand verübeln kann; tatsächlich aber ist auch die diese nur eine weitere Lebensflucht, die genüsslich zelebriert wird. Man kennt es aus melancholischen Aus-dem-Fenster-starr-Momenten, die gern mit einer Prise wohligem Selbstmitleid gewürzt sind. Und so kann zumindest ich diese Platte nicht ganz ernstnehmen, scheint sie doch, seien wir ehrlich, selbst nicht komplett von sich überzeugt zu sein.

About Author

Victoriah Szirmai hört Musik und schreibt darüber. Sie studierte Musikwissenschaften mit Schwerpunkt Musiksoziologie und Rock/Pop/Jazz-Forschung sowie Philosophie und Hungarologie an der Humboldt Universität zu Berlin; außerdem Fachjournalismus mit Schwerpunkt Musikjournalismus am Deutschen Journalistenkolleg. Hier gewann sie mit ihrem Essay-Manifest „Zeit zum Hören – Plädoyer für einen langsamen Musikjournalismus" den ersten Preis des Schreibewettbewerbs „Journalistische Trendthemen". Szirmai schrieb sieben Jahre lang für das HiFi-Online-Magazin fairaudio, außerdem für die Jazzzeitschrift Jazz thing und das (ehemalige) Berliner Stadtmagazin zitty. Aktuell arbeitet sie für den Berliner tip und für Jazzthetik, das Magazin für Jazz und Anderes, wo in ihrer mit der Nachtseite der Musik flirtenden Kolumne „Szirmais Fermaten" ganz viel Anderes und vor allem Leonardcoheneskes stattfindet. Ein weiterer Interessenschwerpunkt ist ästhetische Objektivität.

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